Deutschrap zwischen Stolz und Vorurteil
Deutscher Rap steht in einem bizarren Verhältnis zu sich selbst. Deutscher Rap und all seine Vertreter, seine Künstler, seine Fans und seine Beobachter befinden sich in einem stetigen Spannungsfeld, das irgendwo zwischen himmelhohem Stolz und lähmender Unsicherheit zirkuliert. Stolz zum einen auf die Erfahrungen, die Geschichten, eine Kultur, die sich aus dem Nichts gebildet hat und gigantische Blüten treiben konnte. Rap in Deutschland steht Pate für zahllose großartige Künstler und Songs, für das mittlerweile womöglich stärkste Genre der zeitgenössischen deutschen Populärmusik und nicht umsonst trieft unser Genre vor Selbstreferenz. Doch genau dieser Stolz ist es, der ironischerweise schnell an seine Grenzen stößt – in diesem Falle an seine geographischen: Die Unsicherheit zum anderen nämlich setzt genau dann ein, sobald deutsche Rapper sich in einen internationalen Vergleich setzen könnten. Der musikalische Austausch zwischen Deutschland und dem Rest der Welt schien seit jeher eine absolute Einbahnstraße zu sein. Dieser Fakt steht so selbstverständlich im Raum, scheint ein so übermächtiges, ungeschriebenes Gesetz darzustellen, dass er noch nicht einmal ins Zentrum einer Diskussion geraten ist: Warum scheut sich deutscher Rap so sehr davor, sich in einen internationalen Vergleich zu begeben? Und welche Konsequenzen hat das für unsere Selbstwahrnehmung als Musikszene?
Der begabte große Bruder
Besprechen wir also, was diese triviale Idee für uns bedeuten könnte. Denn die Stellung, die natürliche Ordnung, wenn man so will, sieht derzeit wie folgt aus: Für Rapfans in Deutschland gibt es allem voran zwei Szenen, die im Fokus der Wahrnehmung stehen: die deutschsprachige und die englischsprachige. Und es wird mir wohl ein jeder sofort bei der Behauptung zustimmen, dass die amerikanische der unseren überlegen ist. Größer und älter, angesehener und einflussreicher, mehr Prestige auf der Brust und mehr Trophäen auf dem Kaminsims. Wie ein hochtalentierter großer Bruder, dem wir immerzu nachhecheln, der uns allerdings, ohne sich je umzudrehen, immer mindestens zwei Schritte voraus scheint, immer nur das Vorbild mimt. Und mit dieser Rolle hat deutscher Rap sich seit jeher abgefunden. Doch dies bringt einige Absurditäten mit sich, aus denen tatsächliche Phänomene und Probleme erwachsen. Konkret: Dadurch, dass wir uns im Schnitt immer ein paar Jahre hinter den transatlantischen Trends bewegen, aber dennoch den Selbstanspruch haben, an diesen anzuknüpfen und uns dann teils mit zelotischem Eifer abmühen, frische Stilentwicklungen zu erlernen und zu adaptieren, stellt sich eine arhythmische und unnatürliche Entwicklung unserer Musikkultur ein. Denn unser Blick in die Staaten zeigt uns auch im sonst alles durchleuchtenden Internetzeitalter noch immer ein von den Trends und Hypes verzerrtes Bild, das sowohl im Mainstream als auch im Untergrund nur die dominanten Strömungen ausdrückt.
Ein Beispiel: Vor einigen Jahren haben wir es mit dem Aufkommen von Trapmusik zu tun bekommen. Davor Dipset, davor Golden Era, dazwischen immer wieder kleinere Strömungen, bald könnte uns hierzulande der endgültige Grime-Boom ins Haus stehen. Als in der zweiten Hälfte der Zweitausender Jahre also Trap erstmals Mainstreamgefilde betrat, kam es für die meisten von uns wohl einigermaßen plötzlich, immerhin war die Dipset-Bewegung in einem zunehmend online stattfindenden Deutschland noch im vollsten Gange. Und trotzdem, irgendwann in den letzten Jahren stand Trap dann als der heiße Scheiß im Konsens und selbst Katy Perry schien schneller auf diesen Bandwagon gesprungen zu sein als die deutsche Rapszene. Überall in Übersee begegneten uns nun rasselnde Hats, Snarerolls und Stop-and-Go-Flow. Autotune in Kanyes "808s & Heartbreaks"-Stil war trotz Jay-Zs Abgesang größer denn je. Und was macht der kleine Bruder, wenn der große Bruder etwas Cooles, Neues tut? Ganz richtig: Er imitiert es. Und dieser Prozess gestaltete sich einmal mehr holprig.
Die Übersetzung einer Kultur
Trap-Rapper sprossen folgerichtig auch hierzulande aus dem Boden. Zeitversetzt, aber dennoch klar trendbewusst, versuchten sie also einen Sound in einem Land zu etablieren, das ungefähr so viele Traps wie Shaolinklöster beherbergte und orientierungslos ihren transatlantischen Idolen nacheifernd übernahmen sie schlichtweg den Komplettkatalog: den Sound, die Themen, die Attitüde und die Stilmittel. Auf einmal rappen also alle möglichen Gestalten – der nette Junge von nebenan oder der raubeinige Straßenveteran – davon, wie sie das Lean sippen und Leute erschießen (manchmal mit einem pseudoironischen "Sheesh" gekennzeichnet, um die lieben Eltern auch wissen zu lassen, dass das alles ja nur Spaß ist und man sich ja nur post-meta-ironisch darüber auslassen möchte; manchmal auch nicht), und man muss nun beileibe kein Stieber Twins hörender Realnessfanatiker sein, um zur Meinung zu kommen, dass das ziemlicher Blödsinn ist. Und auch wenn es inzwischen genug gute und eigenständige Artists im Subgenre gibt, von der Cosmo Gang über Marvin Game bis hin zu Fler, hat die holprige Adaption des Stils einen leicht erklärbaren Grund:
Einer der größten Unterschiede zwischen deutschem und amerikanischem HipHop ist der, dass letztere Szene eine lange Historie der geographischen Separation mit sich bringt; anderer Ort bedeutet dort anderer Sound. Selbst wenn die Internetgeneration diese lokalen Grenzen Stück für Stück aufweicht, sind Ostküste, Westküste, Dirty South und North Side immer noch stilbeschreibende Termini, und auch Begriffe wie Chicago Drill oder Connecticut Casual sind nach wie vor vorherrschende Einflüsse für aufstrebende lokale Rapper. In Deutschland hingegen würde es einiges an Fantasie abverlangen, den lokalpatriotischen Szenen um Berlin, Hamburg, Frankfurt oder Heidelberg wirklich einen charakteristischen Sound zu diagnostizieren. Hierzulande ist die Musiklandschaft seit spätestens einer Dekade derartig vernetzt und verzahnt, dass jeder Rapper, der eine Idee oder eine Stil maßgeblich etabliert oder vorantreibt, einen direkten Impact auf das Gesamtbild der Szene ausüben wird. Querverweis auf Aggro Berlin, Querverweis auf Cro, Querverweis auf Casper.
Entsprechend gehen wir unbewusst davon aus, dass amerikanischer HipHop gleichermaßen funktionieren sollte. Dass der Querschnitt, der uns digital erreicht und durch die Prüfung der Relevanz bereits einigermaßen ausgefiltert ist, ebenfalls einen Abdruck einer singulären Szene widerspiegeln müsste. Doch das ist aus oben genannten Gründen nicht der Fall. Als Trap nämlich für uns so überraschend erstmals breiter bekanntes Territorium in Beschlag nehmen konnte, brodelte es in den tatsächlichen Traps im amerikanischen Süden schon lange. Es wurde musikalisch experimentiert, Elemente aus klassischem Rap und Dipset wurden Stilblüten aus EDM und anderen Musikrichtungen hinzugeführt. Die rasselnden HiHats, die Snarerolls, der Stop-and-Go-Flow und der Autotuneeinsatz entwickelten sich nach und nach in einem untergründigen Prozess, bis schließlich ein Sound entstanden ist, der ausgereift genug für die großen Bühnen war. Wir hingegen kannten diese Findungsphase nicht. Uns wurde quasi die direkte Formel präsentiert, das Endergebnis, und die Verlockung, diese Formel einfach eins zu eins zu adaptieren, führte zu Unstimmigkeiten, Unsicherheiten mit der Handhabung und fehlender Authentizität. Kurz gesagt: Dadurch, dass wir diesen Schritt in der Adaption einfach ausließen, brauchte deutscher Rap in der öffentlichen Phase deutlich länger, bis überhaupt erst einige wenige Artists einen Weg fanden, Trap für sich selbst nutzbar zu machen. Was blieb, war im Großen und Ganzen ein einigermaßen kultiviertes Abziehbild des amerikanischen Sounds.
Und was heißt das für uns?
Was hat all das nun mit meinem beschriebenen Minderwertigkeitskomplex zu tun, könnte man sich fragen. Meiner Ansicht nach sehr vieles: Das generelle Problem ist die Hörigkeit der deutschen Szene auf dominante amerikanische Trends. Denn statt es hierzulande selbst brodeln zu lassen, sich auf lokale Untergrundszenen einzustimmen und eigene musikalische Stile zu entwickeln, scheint es zur Maxime erhoben worden zu sein, möglichst nah am transatlantischen Vorbild zu sein, möglichst direkt Trends in die eigene Musik einfließen zu lassen, die man womöglich selbst noch gar nicht versteht. Der schnellste Rezipient des aktuellen Amistyles wird dafür gefeiert, eine Idee zuerst gebitet zu haben. Dabei hat Deutschrap die Innovatoren und Kreativen, die Anderes möglich machen könnten. Es sei verwiesen auf Artists mit klar abgestecktem eigenen Sound wie Peter Fox, Cro, Casper oder Marteria. Es könnten aber auch kleinere, nischigere Musiker sein, die in ihrer Sparte ihre eigene musikalische Machart gefunden haben. Hier könnte man Absztrakkt zitieren, Hiob, Yung Hurn, Harry Quintana, Retrogott, die Antilopen Gang, Audio88. Einen jeden Artist, der eigene musikalische Impulse setzt und einen jeden, der bereit ist, diese Impulse aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Das sollte keine liebsame Randerscheinung der Musikrichtung sein, es sollte unser großes Steckenpferd sein. Denn sollte sich unserer großer Bruder irgendwann zu uns umdrehen und betrachten, welche Früchte seine Saat getragen hat, sollte er nicht eine erschöpft schnaufend und hechelnde Karikatur seiner selbst sehen, die alle Mühe darin investiert, irgendwie so zu auszusehen wie er, obgleich sie sich gänzlich bewusst ist, das niemals erreichen zu können. Er sollte eine selbstbewusste musikalische Kultur sehen, die sich vielfältig und unermüdlich neugierig in alle Richtungen vorantastet, stetig Neues entdeckt und dieses Neue kultiviert und verbessert, so dass am Ende das entsteht, was man als einen Mehrwert der globalen Streuung des HipHops betrachten könnte. Und auch wenn Deutschrap bereits an vielen Stellen in eine gute Richtung zu steuern scheint, sollte es doch unser kollektiver Ehrgeiz sein, egal in welcher Rolle wir agieren, sei es als Musiker, als Medien oder als Fans, diese Entwicklungen zu begleiten und zu unterstützen. Denn mit diesem Bewusstsein könnte deutscher HipHop noch zielstrebiger und noch blütenreicher wachsen und gedeihen, als ein Genre, das seinen eigenen Platz im Musikkosmos einnimmt.
(Yannik Gölz)