Special: Kurz-Reviews Oktober 2014

  • Im Jahr 2014 sieht man sich als eigenständiges Deutschrap-Magazin in einer wahren Dilemmasituation gefangen: Der Markt ist längst übersättigt. Tagtäglich wächst die Szene exponentiell, ein Ende ist nicht in Sicht – Rapper kommen, aber so wirklich gehen wollen sie nicht, selbst wenn sie's sagen. Comebacks an jeder Ecke. Und nachdem vor einigen Jahren noch sämtliche Plattenfirmen dicht machten, schießen neue Labels langsam wieder aus allen Böden. Vorbei die Zeiten von Aggro Berlin, BOZZ Music und Optik Records – die Ära der Freunde von Niemand, der Azzlackz, der Halunkenbanden und der Banger-Musiker hat unlängst begonnen. Bei einer solchen Vielfalt an neuen Künstlern ist es natürlich nicht ganz so einfach den Überblick zu behalten – was ist wichtig, was könnte noch wichtig werden und was kann man getrost unter den Tisch fallen lassen? In internen Gesprächen kommen sie immer wieder auf – die Fragen, wer sich nun seine Review verdient hat, wer seinen Platz in den "Unknown Kings" kriegen sollte und wer zwar ein guter Künstler ist, aufgrund von Kapazitätenauslastung aber leider keine Plattform von uns geboten bekommt. Und das sind teilweise leider so einige ... Was uns zur Dilemmasituation zurückführt: Allen kann man's in der heutigen Zeit unmöglich Recht machen. Es ist ein wenig wie in "300": eine Hand voll Redakteure sieht sich einer Übermacht an Rappern gegenübergestellt. Deshalb wollen wir mit diesem Special mal einen kleinen Exkurs wagen – abseits der unbekannten Könige und der sowieso schon bekannten Acts ist nämlich nach wie vor ein Haufen aufstrebender Künstler in der Szene unterwegs, die wir euch im Rahmen einiger Kurz-Reviews vorstellen möchten ...





    Disarstar – Tausend in einem


    Neben viel Glück und Talent bedarf es auch jeder Menge Fleiß, wenn ein Rapper sich aus der schier unendlichen Masse an Newcomern und semibekannten Künstlern heraus in den Fokus kämpfen will. Auch Disarstar scheint es seinem Eifer zu verdanken, dass er sich nun endlich in der Szene etabliert hat und mit Videos und Interviews in relevanten Medien vertreten ist, denn bei der neuen EP handelt es sich um sein bereits drittes Release in diesem Jahr. Für den gebürtigen Hamburger ist es nun also an der Zeit, zu beweisen, dass er nicht nur einer unter Tausenden ist, sodass er den Spieß einfach umdreht und mit seinem neuen Werk klar machen will, dass er "Tausend in einem" verkörpert. So wie Disarstar sich von anderen Rappern, scheint sich auch diese Veröffentlichung von seinen bisherigen Platten abgrenzen zu wollen, denn auch wenn der Interpret sich in Hinblick auf Inhalt und Wortwahl treu bleibt, erweist sich "Tausend in einem" als klanglich deutlich ruhiger. Tatsächlich handelt es sich beim Titeltrack, der im Vergleich zu anderen Liedern von Disarstar eher wie ein ruhiger Einstieg wirkt, um den härtesten der EP. Auf einem düsteren Beat flowt der Rapper intelligent wie eloquent Salven von representer- und battlelastigen Zeilen und kann dank kräftiger Stimme sogar eine kleine Gesangseinlage in der Hook wagen, ohne dass das Ganze peinlich oder schief anmutet. Das wesentlich zurückhaltendere Instrumental zu "Facette" leitet den weiteren, geradezu sanften Verlauf des fünf Tracks starken Werks ein, während sich Disarstar mit einem wichtigen Aspekt seiner Persönlichkeit beschäftigt, der ihn stets zu Höchstleistungen antreibt, jedoch weder Schwäche noch Versagen zu tolerieren scheint. Auch die Liebeserklärung an sein "Tor zur Welt", die Stadt Hamburg mit ihren vielen Kontrasten und Widersprüchen, die ineinander verwachsen einen Spiegel der Gesellschaft darstellen wirkt eher melodisch als wütend und hart. Ebenso wie "Alle hören", auf dem Disarstar offen und ehrlich von den Motivationen und Gründen hinter seiner Musik spricht, sodass sich die Frage stellt, ob die EP eher eine Art Ruhe vor dem Sturm oder einen leichten Wandel im Soundbild des Rappers darstellt. Das nächste Release wird es zeigen – und bei Disarstars gewaltigem Output ist es nur eine Frage der Zeit, bis dieses erscheint.





    Swiss & Die Andern – Schwarz-Rot-Braun


    Ob im Duo mit dem Produzenten Gin, auf Alben wie "Jeder Track ein Hit" und "Es kann nur einer befehlen" oder in seinen vielen Musikvideos – Swiss zeichnete sich, gerade im Zeitraum zwischen 2005 und 2008, schon immer durch eine gewisse "Ich gegen die Anderen"-Attitüde aus. Nachdem es in den letzten Jahren teilweise ein wenig ruhig um ihn schien, kehrt der Hamburger nun jedoch gänzlich zurück und macht aus "Ich gegen die Anderen" einfach "Swiss & Die Andern". Denn in ebenjenen, der Punkband "Die Andern", hat Swiss genau die Partner gefunden, die es ihm ermöglichen, seinen sehr eigenen Stil richtig auszuleben. So wird das Label Missglückte Welt einfach zur Lebensphilosophie und die "Finger zum MW" zum Erkennungsmerkmal der Fans. Dreckige Gitarrenriffs werden mit Scratches kombiniert, ohne verbissen darauf zu achten, dass sich HipHop und Punkrock zu gleichen Teilen heraushören lassen, denn statt einer simplen Verbindung beider Stile kreieren Swiss & Die Andern lieber ihre ganz eigene Richtung. Inhaltlich konzentriert man sich dennoch auf thematische Überschneidungen von Rap und Punk, Swiss spricht einer desillusionierten, wütenden Jugend aus der Seele, die ihren Platz im Leben sucht und sich zwischenzeitlich mit Partydrogen, Sex und Randale abfindet. Mehr als passend kommt dabei die helle Stimme des Rappers zum Tragen, die auf den harten, größtenteils analogen Intrumentals allein schon klanglich eine "Klatsche" für alle Spießer, Nazis und sonstige Feinde der Missglückten Welt darstellt. Da dürfen Mitgröl-Hooks und Singsang dann auch gerne etwas schief sein – der spontane, unbekümmerte Charakter der Tracks verdeutlicht nur umsomehr die Freiheiten, die sich Swiss & Die Andern im Leben wie in der Musik herausnehmen wollen. Den Spaß an der Sache hört man sowieso in jedem der fünf Tracks – egal, ob gemeinsam mit Ferris MC die Wehmut darüber, dass man gerne die alte, rebellische Zeit noch einmal durchleben möchte, durch eine mitreißende Menge Energie überspielt wird oder Swiss mit viel Witz die Klischees, aber auch die kleinen gemeinen Wahrheiten über das "schwarz-rot-braune" Spießbürgertum aneinander aufreibt, bis der verkappte Rassismus dahinter entlarvt wird. Zweifelsohne ist diese EP der Beweis dafür, dass Swiss nun genau den Stil gefunden hat, den er schon immer machen wollte und den er nun endlich auch mit Die Andern und allen anderen teilen kann.





    Drehmoment – Pffh


    Zu Beginn dieses Jahres kündigte Drehmoment mit dem Gratis-Mixtape "Pffh – die Vorhut" und einem filmähnlichen Trailer, in dem er das Erwachen seines Alter Egos, der Handpuppe "Tufac", zelebrierte, sein erstes "richtiges" Album bereits an. Nun präsentiert uns der Saarländer "Pffh" als vollwertiges Release in vollem Umfang. 21 Anspielstationen, vollgepackt mit Wortwitz, intelligenten Texten und Aussagekraft hat der Rapper dafür angesammelt, bis er der Meinung war: "Was raus muss, muss raus"! Auch wenn der Name zunächst vielleicht nach heißer Luft klingen lassen mag, was Drehmo hier als Gesamtprodukt abliefert, kann sich absolut sehen und hören lassen. Mit breitem, gelungen ausproduziertem Soundbild stellt er sich der fragwürdigen Kritik seiner Hater, beschreibt sich als hektisches Arbeitstier, für das Ruhe der größte Stress ist, und erklärt auf fast epochalem Sound, wie die "Mukke" sein Leben prägt und begleitet. Geschickt verbindet Drehmo hierbei Inhalt und Einprägsamkeit – nur selten brennt sich eine Hook nicht ins Ohr, während der Rapper gleichzeitig auf Missstände aufmerksam macht, Szene und Gesellschaft kritisch beäugt oder über sich selbst nachdenkt. Mal bedrohlich ruhig wie auf "Monster in mir", mal mit hektisch abgehacktem Flow wie auf "Alles Super" variiert er seinen Stil und die Atmosphäre immer wieder, um ein facettenreiches Themen- und Soundgebilde zu formen. Ein absolutes Highlight stellt dabei der Aufruf zum "Aufstand" gemeinsam mit Gentleman dar, der mit Reggae-Einfluss und dem Gesang des Featuregastes grandios hervorsticht. Mindestens so gekonnt, wie Drehmoment Gesellschaftskritik und Selbstreflexion behandelt, gelingt es ihm auf Representer- und Battletracks zu überzeugen, wenn er den "Studentengangster" raushängen lässt oder sich seine Gegner per "Boomerang-Effekt" selbst ausknocken. Nebenbei mimt er gemeinsam mit Kontrovers den machohaften Manager fürs "Samenmarketing" oder durchlebt überzogen wehleidig seine "Luxusprobleme", sodass auch Witz und ein wenig Schauspielerei auf "Pffh" nicht zu kurz kommen. Ein sowohl thematisch als auch klangtechnisch variationsreiches Album, bei dem das "Pffh" der Hörer wohl eher Ausdruck des Erstaunens als des Desinteresses sein wird.





    Medizin Mann – Schall & Rauch


    Seit dem Signing bei Deutschlands Horrorcore-Pionier Basstard und seinem Zutun zum Label-Sampler "Zeitzeugen" machte sich Medizin Mann mit seinen Alben "Memento Mori", "RocknRolla" und zusammen mit MC Bogy auf "V.K." in gewissen Kreisen einen Namen. Nun folgt der nächste Solostreich mit dem Titel "Schall & Rauch", was zunächst fast ein wenig nach Tiefstapelei klingt. Zwar mögen Fans des Rappers den Namen natürlich nicht wortwörtlich nehmen, aber auch die nächstliegende Interpretation, es ginge um Musik und rauchbare Opiate, entspricht nur bedingt der Wahrheit. Denn auch wenn diese Themen sicherlich zu Genüge behandelt werden, hat "Schall & Rauch" noch reichlich mehr zu bieten. So baut der Einstiegstrack "Engel weinen" zunächst die gewohnt düstere Atmosphäre auf, zu der die heiser wirkende Stimme des Rappers bedrohlich aus den Boxen kriecht, doch lassen sich durch Tracks wie "Ich flieg davon", insbesondere durch die helle Gesangshook von Featuregast M-Hot, sogar extrem positive Tracks auf dem Album finden. Auf der Suche nach seiner Eisprinzessin wagt sich Medizin Mann mit "So kühl wie Eis" sogar an schleppende Dubstep-Einlagen und liefert mit "Ich mal dich an" gleich die passend kraftvolle, emotionale Ballade dazu. Aber auch die Fans des gewohnt bösen Medizin Manns werden auf "Schall & Rauch" nicht enttäuscht. Dafür sorgen Tracks wie "Schamanismus", der mit einer Mischung aus Synthiesound und Grimme-Einstreuungen zur tödlichen Party samt Bombendrohung einlädt, oder "Affenbande", auf dem er sich gleich zwei Meister ihres Faches mit ins Boot holt. Ein Szenario, irgendwo zwischen "Planet der Affen" und einem Endzeit-Horrorstreifen, wird auf das harte Leben in Berlin projiziert, wenn Basstard und Kaisaschnitt den Gastgeber auf dumpfem, basslastigem Sound mit bitterbösen Texten unterstützen. Sobald man sich dann aber mit Basti von Trailerpark einen Cocktail aus "Pillen, Pulver, Dope, Alk" eingeworfen hat und dadurch "über den Horizont" hinausgeflogen ist, gibt es noch ein paar Anspielstationen, die nicht nur neue Wege darstellen, sondern scheinbar völlig andere Musikrichtungen in den Fokus stellen. Auf schrillen Synthiebeats wird gemeinsam mit einem Kinderchor der klischeehafte "Öko" verspottet und die Frage "Wo sind die Männer?" stellt Medizin Mann so, dass das Ganze fast wie der böse Zwilling der neuen Deutschen Welle klingt – und die Rede ist hier nicht von Fler. Treue Horrorkore-Anhänger werden mit "Schall & Rauch" sicherlich sowieso jede Menge Spaß haben, doch gerade durch die vielen musikalischen Experimente und Variationen könnte so ziemlich jeder an dem ein oder anderen Track Gefallen finden.



    Wobo Solagl (Daniel Fersch)

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