Kapitel Achtzehn – Scham
Sie haben ihn gefunden. Ich hätte nicht gedacht, dass sich in einem so kleinen Menschen so viel Hass anstauen kann. Vor wenigen Tagen habe ich ihm geholfen. Seine Wunden versorgt. Später habe ich ihn gejagt. Mit Ned und mit Katara. Nur, um nicht allein zu sein. Und jetzt jage ich ihn erneut. Mit Schiegfried. Und mit welcher Gewalt sie vorgegangen sind. Seine Augen haben vor Hass gesprüht, aber was sie diesem Mann angetan haben… Der Dude predigt Frieden. Doch er war Schlimmste. Der Kater war noch relativ harmlos. Aber das, was Schiegfried ihm angetan hat. Der Hass in jedem seiner Hiebe. Die Schreie. Vor Wut. Vor Schmerz. Vor Trauer. Und ich stand daneben und tat…Nichts. Ich wusste, dass er unschuldig war. Zumindest dieses Mal. Ich dachte, ich hätte dem Jungen eine Bürde abgenommen. Und jetzt hat er einen Menschen getötet. Nein. Niedergemetzelt. Auf die graumsamste Art und Weise, die man sich vorstellen kann. Ich habe aus diesem Jungen ein Monster gemacht. Und ich schäme mich furchtbar dafür.
Ich kann ihm nicht mehr in die Augen sehen. Also laufe ich. Weg von ihm. Weg von hier. Weg von dem Leichnam. Ich schäme mich so unendlich dafür. Ich weiß nicht wohin. Aber im Momentan will ich einfach nur noch weg. Während meiner Flucht stolpere ich und reiße mir das Bein an einem umgeknickten Baumstamm auf. Es schmerzt höllisch, aber ich muss einen freien Kopf bekommen. Also laufe ich weiter. Bis ich irgendwann nicht mehr kann. Also suche ich mir einen Platz zum Ausruhen. Als wäre es so geplant gewesen, befindet sich in der Nähe zufällig ein winziger See. Mein Bein schmerzt höllisch. Es pocht und brennt. Ich schaue es mir genauer an und stelle fest, dass die Wunde zwar nur oberflächlich, aber dennoch bereits entzündet ist. Ich wasche sie ordentlich aus und sammle ein paar Kräuter, die ich von zuhause kenne. Wenn man darauf herumkaut und das auf der Wunde verteilt sollen sie entzündungshemmend wirken. Und dann erinnere ich mich an etwas. Bevor wir aufgebrochen sind, um Schiegfried zu suchen, hat Dante in der Eile noch einen Blechbehälter eingepackt, der so aussah wie meine. “Falls ihm was passiert ist“, meinte er zu mir. Ich habe nicht darüber nachgedacht, weil Alles so hektisch ablief, aber vielleicht war in seinem Behälter ja eine Salbe. Ich könnte umdrehen und versuchen daran zu kommen. Allerdings habe ich bei dem vielen Laufen den Überblick über meine Position verloren. Es dürfte schwierig werden den Weg zurück zu finden. Allerdings weiß ich sowieso nicht, wo ich hin soll. Gerade in der Dunkelheit. Also versuche ich den Weg zur…Grube…zu finden. Aber erst morgen. Jetzt brauche ich eine Pause.
Kapitel Neunzehn – Verschnaufpause
Am nächsten Morgen fühle ich mich ausgeruht. Mein Bein schmerzt beinahe gar nicht mehr. Allerdings war jemand hier. Ich sehe Fußabdrücke und einige umgeknickte Zweige. Jemand ist bei mir gewesen. Ich wurde nicht getötet. Das ist gut. Allerdings fehlt mir eine Schale mit Wasser für unterwegs. Auch der Sprengkörper fehlt. Es ist schade um meine Ressourcen, aber ich bin noch glimpflich davon gekommen. Auch sonst scheint auch Alles in Ordnung zu sein. Mein Plan für heute sieht als vor zur Grube zurückzukehren.
Die Suche nach der Grube verlief nicht sonderlich erfolgreich. Aber immerhin bin ich niemandem über den Weg gelaufen. Nach den letzten Erlebnissen ist es vielleicht sogar besser, wenn ich allein bleibe. Ob ich es will oder nicht. Der Tag heute war lang. Und zum zehnten Mal mittlerweile bricht die Nacht an. Ich bin müde. Unfassbar müde. Ein Blick in die Umgebung zeigt mir, dass ich hier sicherer bin als beim letzten Mal. So schnell sollte ich hier nicht entdeckt werden. Ich lege mich gerade zur Ruhe als ich über mir ein metallisches Klopfen wahrnehme. Dann fällt etwas neben mir auf den Boden. Wieder so ein Metallbehälter. Vielleicht Medizin? Neugierig öffne ich den Behälter. Daraus starrt mir ein Sprengkörper entgegen. Dabei liegt ein Zettel. ‘Lass es Dir nicht wieder klauen. Das hier wäre doch ein gutes Ziel.‘ Ich bin etwas durcheinander. Aber dann bemerke ich, dass auf der Rückseite eine Karte abgebildet ist. Ist das die Arena? Auf der Karte sind zwei Markierungen gezeichnet. Eine soll mich darstellen und die zweite...hm. Nicht weit weg. Aber was ist da?
Mitten in der Nacht tönt eine laute Sirene auf. Ich schrecke so abrupt auf, dass ich beinahe versehentlich den Stift aus dem Sprengkörper gezogen hätte, weil er sich an einem Zweig verhakt hatte. Dann spricht jemand. Offensichtlich über Lautsprecher. “Achtung, Achtung. Am Startpunkt befinden sich für jeden von Euch wertvolle Ressourcen. Die sind allerdings begrenzt. Also beeilt Euch lieber. Frohes Jagen!“ Das klingt natürlich sehr verlockend. Aber jetzt gerade werden alle verbliebenen Tribute auf dem Weg dorthin sein. Noch dazu in der Nacht. Das ist mir zu gefährlich. Ich bleibe lieber hier. Vielleicht habe ich gute Aussichten auf Schlaf, wenn Alle auf dem Weg zum Ausgangspunkt sind.
Die Nacht verlief überraschend ruhig. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Beginn der Spiele halbwegs ausgeruht. Allerdings überwältigt mich allmählich der Hunger. Die letzten Tage gab es ausschließlich Beeren. Beeren, Beeren und nochmal Beeren. Allmählich trauere ich den Kaninchen nach. Ich brauche mal wieder was Festes. Ich habe zwei Möglichkeiten. Weiter nach der Medizin suchen oder etwas zu Essen. Mein Bein sieht eigentlich wieder ganz gut aus. Aber mein Hunger macht mir mittlerweile stark zu schaffen. Das erleichtert mir die Entscheidung. Das Fischen beim letzten Mal lief eher durchwachsen. Also versuche ich es dieses Mal mit etwas Anderem. Etwa zwanzig Meter vor mir hängt ein seltsam geformter Ast von einem offensichtlich abgestorbenen Baum herunter. Ich denke, daraus kann man ohne großes Zutun ein gutes Fischerwerkzeug fertigen. Die drei kleinen Äste am Ende des Stammes erinnern mich an eine Gabel. Vielleicht sind damit dieses Mal meine Erfolgsaussichten besser.
Das mit dem Fischen hat nur ganz so gut funktioniert wie erhofft, aber immerhin ist es mir gelungen, drei kleine Fische damit zu ergattern. Das hat mich allerdings auch beinahe den ganzen Tag gekostet. Nun ja, mein Fischerwerkzeug bietet sich jetzt als hervorragendes Feuerholz an. Zumindest die Seite, die nicht den halben Tag im Wasser auf Beute gelauert hat. Also gibt es zum ersten Mal seit Tagen etwas Festes zu essen. Die letzten beiden Tage verliefen angenehm ruhig. Nach dem Durcheinander in den letzten Tagen habe ich das eindeutig gebraucht. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich mich gerade wohl fühle, aber diese Ruhe erinnert mich an viele Nächte im Freien mit Svea und Rasmus. Bei dem Gedanken kommt mir ein Lied in den Sinn, dass Svea früher immer gesungen hat. Ihre Mutter hatte es ihr ihrer Zeit beigebracht. Jetzt ist es eins der wenigen Erinnerungsstücke von früher, an denen ich mich jetzt noch festhalten kann. Das leise vor mich her Singen beruhigt mich ungemein. Schon nach kurzer Zeit kann ich nur noch summen und schließlich fallen mir die Augen zu. Seltsam wie friedlich Alles wirkt.
Kapitel Zwanzig –Zu schwach
Ich erwache bereits früh in der Dämmerung. Seit Tagen habe ich mich nicht mehr so ausgeruht gefühlt. Ich muss allerdings aufpassen. Auf keinen Fall darf ich zu nachlässig werden. Das ist gefährlich. Meine Sachen sind noch alle da. Sonst scheint auch niemand hier gewesen zu sein. Im Moment scheint Alles in Ordnung zu sein. Eigentlich bin ich geneigt hier zu bleiben. Die letzten beiden Tage an diesem Ort verliefen ruhig und verhältnismäßig angenehm. Allerdings beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es nicht gut ist, wenn ich weiterhin hier ausharre. Vielleicht sollte ich mir einen sichereren Unterschlupf suchen. Die Suche nach Dante….nach der Medizin kann ich wohl aufgeben. Mein Bein fühlt sich eigentlich wieder ganz gut an. Es sind zwar noch Blessuren und leichte Entzündungsspuren zu sehen, aber der Schmerz hat immens nachgelassen. Ich denke, ich sollte weiterziehen. Den Überblick habe ich sowieso längst verloren. Also suche ich mir eine Richtung aus und spaziere einfach drauf los.
Jetzt steht er mir gegenüber. Ich kenne ihn. Die Gestalt habe ich vor vielen Tagen schon mal gesehen. Ich glaube, damals hat er mich belauscht. Ich bin ihm gefolgt und beinahe hatte ich ihn erwischt. Damals bin ich Karls Lager gelandet. Und wie es das Schicksal manchmal so will haben wir plötzlich die Nacht am selben Feuer verbracht. Von ihm schien keine Gefahr auszugehen. Auch wenn er mir offensichtlich genauso wenig über den Weg traute wie umgekehrt. Jetzt stehen wir wieder her. Auge in Auge. Er wirkt nervös. Regelrecht aufgelöst und zittert am ganzen Körper. Ich bereue es ein wenig meine einzige Waffe verbrannt zu haben, um meinen Fisch darüber zubereiten zu können. Aber so wie er aussieht sollte ich auch so in der Lage sein, ihn zu bezwingen. Ich behalte ihn genau im Auge. Warte ab, was er tut. Schaue auf meine Umgebung. Nicht, dass plötzlich jemand aus dem Hinterhalt auftaucht. Vielleicht finde ich auch eine brauchbare Waffe, während ich die Umgebung aussondiere. Aber zum Kampf kommt es gar nicht. Wie es scheint. Mein Gegenüber schüttelt sich heftig und sackt vor mir auf die Knie. Was auch immer er bis eben vor sich hingemurmelt hat; jetzt weicht es einem bedauernswerten Schluchzen. Ich bekomme Mitleid und irgendetwas in mir würde ihm am liebsten auf die Schulter klopfen und Mut zusprechen. Doch mein Instinkt warnt mich davor dieser Scharade zu vertrauen. Dann hebt er seinen Blick. In seinen Augen sind echte Tränen zu sehen. Das ist kein Schauspiel. Er scheint einfach mit seinen Nerven am Ende zu sein. Wieder beginnt er etwas zu murmeln. Und dann verstummt er. Sein Blick fixiert mich. Plötzlich scheint sich seine Stimmung gewandelt zu haben. Ein unbestimmtes Gefühl sagt mir, dass er mich jeden Augenblick angreifen wird. Ich versuche mich auf alles Denkbare vorzubereiten. Aber damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Seine Augen füllen sich erneut mit Tränen und er bettelt mich darum an, ihm das Leben zu nehmen. Er…verlangt von mir, dass ich ihn umbringe. Aber aus irgendeinem Grund zögere ich. Unter anderen Umständen hätte es geheißen, er oder ich. Aber aus diese Weise…das kann ich nicht. Ich kann niemandem das Leben nehmen, der so am Boden ist. Selbst, wenn ich ihm damit einen Gefallen täte. Das wird selbst in der Bruderschaft gelehrt. Ich könnte es tun. Ich würde es schaffen. Da bin ich sicher. Selbst, wenn das eine List sein sollte. Ich könnte es. Rein körperlich wäre ich dazu in der Lage. Aber Alles in mir sträubt sich dagegen. Also drehe ich mich wortlos um und gehe, während sein Flehen hinter mir immer lauter wird.
Kapitel Einundzwanzig – Ein Freund, wenn man ihn braucht
Das, was gestern passiert ist, macht mir noch immer schwer zu schaffen. Das ist das, was diese Spiele aus einem machen. Entweder man ist stark genug und willens, Alles zu tun oder man ist zu schwach. Und Schwäche wird hier mit dem Tod bestraft. Ich war schwach. Die kompletten Spiele über. Wenn es darauf ankommt, bin ich nicht in der Lage, das Nötige zu tun. Und ich denke, ich werde es nie sein. Draußen war es anders. Ich hatte jemanden, der sich um mich gekümmert hat. Jemanden, um den ich mich kümmern konnte. Wenn es darauf ankam, war jemand da, der mich stützt. Hier stelle ich immer wieder Eins fest: Egal, mit wem Du Dich zusammen tust. Am Ende des Tages bist Du trotzdem wieder allein auf Dich gestellt. Und ich bin es leid. Das, was vorhin passiert ist, will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. Das machen die Spiele aus Dir. Sie offenbaren, was Du wirklich bist. Und in meinem Fall heißt das schwach. Hilflos. Ich sitze hier. Mal wieder an einen Stamm gelehnt. Und mal wieder starre ich in mein Feuer. Und mir wird immer klarer, dass es für mich keine Chance gibt hier lebend wieder herauszukommen. Es ist eigentlich ein Wunder wie ich es überhaupt so lang geschafft habe zu überleben. Plötzlich reißt mich etwas aus meinen Gedanken. Auf meiner Hand liegt eine Pfote. An mich geschmiegt ist ein warmer Körper. Die Katze. Zum dritten Mal kreuzen sich unsere Wege. Und meist dann, wenn es schwierig wird. Wenn die Zweifel an mir nagen. Wie damals bei Schiegfried. Kurz nach Dantes Tod. Da war das Tier auch da. Ich weiß nicht, was es damit auf sich hat, aber seine Gegenwart beruhigt mich ungemein. Und so sitzen wir hier schweigend nebeneinander und starren in das Feuer. Meine Zweifel sind immer noch da. Aber jetzt rücken sie in den Hintergrund und weichen einer angenehmen Ruhe. Ich weiß, dass ich sterben werde. Aber noch ist es nicht soweit.
Am Morgen verlässt mein stummer Begleiter mich. Ich habe keinen Schimmer, warum er zu mir gekommen ist und warum er einfach so wieder geht. Überhaupt ergibt Vieles von dem, was sich während dieser Spiele zugetragen hat, wenig Sinn. Ich bin deutlich mehr Bündnisse eingegangen als ich Kämpfe ausgetragen habe. Und das widerspricht Allem, was in diese Spiele verkörpern. Das ergibt keinen Sinn. Ziel ist es zu überleben. Ja. Allerdings darf es nur einen geben, der hier heil wieder heraus kommt. Nur Einen. Jedes Bündnis innerhalb dieser Spiele widerspricht dem klaren Menschenverstand. Und mein erstes damals hat mir schließlich gezeigt, dass man sich auf niemanden verlassen sollte. Doch was seitdem Alles passiert ist…ich kann mich an das Meiste schon gar nicht mehr so recht erinnern. Nur noch an wenige Gesichter. Ned. Karl. Dante. Schiegfried…Während ich all das nochmal Revue passieren lasse, mache ich mich auf die Suche nach einer Mahlzeit. Der See ist mittlerweile mindestens einen Tagesmarsch entfernt und seit den Kaninchen damals habe ich kaum Wild herumlaufen sehen. Also heißt es für mich mal wieder Beeren essen. Der Strauch, den ich gefunden habe, sieht vielversprechend aus. Die Beeren sind lecker. Reif. Saftig. Die besten, die ich bis jetzt während dieser Spiele hatte. Allerdings ist das Gestrüpp drum herum auch von vielen spitzen Dornen übersäht. Ich kann gar nicht zählen wie oft ich mich beim Pflücken gestochen habe. Aber immerhin stillen die Beeren eine Zeit lang den Hunger etwas.
Kapitel Zweiundzwanig – Höllenschlund
Ich werde von einem lauten Knall und einer unerträglichen Hitze geweckt. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was hier gerade passiert. Aber überall ist Feuer! Alles brennt! Ich rappele mich auf und laufe. Wohin auch immer. Ich muss weg. Irgendeinen Platz suchen, der mir ausreichend Schutz bietet. Der See ist leider zu weit weg. Aber ich muss eine sichere Zuflucht finden. Egal, ob es ein See oder nur eine Felsformation ist. Ich muss weg von diesem Feuer. Also laufe ich. Weiter und weiter. In der Dunkelheit der Nacht lässt sich schwer sagen, wohin ich laufe. Ich sehe nicht einmal, wohin ich als nächstes trete. Das Feuer hinter mir scheint unaufhaltsam näher zu rücken. Und plötzlich bildet sich nur wenige Meter neben mir eine weitere Flammenwand. Beide scheinen unaufhaltsam auf mich zuzurollen. Während des Laufens stoße ich an etwas, das ich beinahe vergessen hatte. Der Sprengkörper an meiner Jacke. Er scheint beinahe zu glühen. Mein Handgelenk ist verbrannt. Aber ich habe keine Zeit. Ich. Muss. Laufen. Schneller. Lauf, Nel. Lauf, lauf, lauf, lauf, lauf! Und dann fällt mir etwas ein. Wenn der Sprengkörper glüht… Panisch reiße ich daran herum und versuche, ihn von der Jacke zu lösen. Dabei ziehe ich mir schwerwiegende Verbrennungen an den Händen zu, aber er muss weg! Mach schon, Nel! Dann ist es gelungen. Ich halte das glühende Metall in meiner Hand und schmeiße es soweit ich kann. Keine Zeit für Schmerzen. Lauf, Nel, lauf! Dann explodiert etwas hinter mir. Zuerst denke ich, dass eine weitere Feuerwand losbricht. Aber dieses Mal klingt es anders. Es ist keine laute Explosion. Es klingt als hätte jemand Unmengen an Wasser aufgewühlt. Ich blicke hinter mich. Eine Fontäne löst sich gerade wieder in Luft auf und lässt es regnen. Der Sprengkörper muss ich einem Teich oder See eingeschlagen sein. Der vermeintliche Regen löscht die Flammen drum herum ein wenig. Das ist Deine beste Chance. Also drehe ich um. Dahin, wo ich die Fontäne in Erinnerung hatte. Auf dem Weg dorthin kippt vor mir ein brennender Baumstamm um und erschlägt mich beinahe. Ich zögere. Es scheint kein Weg darum zu führen. Links sind Flammen. Rechts auch. Meine beste Chance ist… Ich schüttle den Kopf, aber ich habe keine Wahl. Von Panik ergriffen stürme ich auf den lodernden Stamm zu und springe. Ich muss einen Fuß darauf setzen und meine Hose fängt etwas Feuer. Doch zum Glück erreiche ich wenige Schritte später das rettende Wasser. Es ist nur ein kleiner Teich. Nicht tief genug zum Tauchen. Aber wenn ich mich hinlege, bin ich zumindest im schützenden Wasser. Zu meinem Glück sind um mich herum kaum hohe Bäume, die ins den Teich stürzen könnten. Alles ist das Schilf sehr trocken und brennt sehr heiß ab. Ausharren, Nel. Durchhalten!
Es ist überstanden. Die Flammen verlöschen allmählich. Und ich bin bis auf die Knochen durchnässt. Allerdings glimmt Alles um mich herum. Ich traue mich kaum, einen Fuß aus dem Wasser zu setzen, aber jetzt, da die Flammen verlöscht sind, beginne ich zu frieren. Und allmählich setzt der Schmerz in meinen Händen ein. Die Verbrennungen sehen schlimm aus. Ich bereue es nicht doch nach der Medizin gesucht zu haben. Jetzt hätte sie mir einen immensen Dienst erwiesen. Ich kann meine Hände kaum nutzen, ohne dass enorme Schmerzen durch meine Handflächen jagen. Mittlerweile ist die Nacht wieder dunkel. Die abgebrannten und umgeknickten Bäume sehen furchterregend aus. Die letzten noch glimmenden Stellen sehen aus wie dämonische Augen, die mich aus der Finsternis anfunkeln.
Auch in dieser Nacht habe ich kein Auge zugetan. Der Schmerz in meinen Händen; die gruseligen Umrisse…das Alles hat mir keine Ruhe gelassen. Mittlerweile dämmert es. Außer den Umrissen ist allerdings noch immer nicht viel zu sehen. Ich habe allerdings das Gefühl beobachtet zu werden. Im Halbdunkeln scheint etwas um mich herumzuschleichen. Nicht weit. Auf der anderen Seite des Teiches. Und der stellt wirklich kein Hindernis dar, wenn ich angegriffen werde. Ich fokussiere den Punkt, an dem ich eben die Gestalt gesehen habe. Aber nun sehe ich dort Nichts mehr. Nur einen starren Schatten. Keine Bewegung. Kein Ton. Ich kneife meine Augen zusammen, in dem Versuch mehr zu erkennen. Und dann springt es mich an. Springt er mich an. Mit ein paar schnellen Sätzen springt er geschickt durch das Wasser und fällt über mich her. Ich kann gerade so noch die Arme hochreißen, um den Schlag seines Stocks abzuwehren. Dann stürzt er sich auf mich. Er wirkt verändert. Gestern hat er so verzweifelt gewirkt und heute scheint er nur noch rasend vor Wut zu sein. Noch immer führt er Selbstgespräche. “Du hattest Deine Chance. Jetzt. Jetzt bist Du dran. Du hattest Deine Chance. Du hattest Deine…hattest Deine Chance. Jetzt kriege ich Dich.“ Es ist schwer zu glauben wie ein Murmeln so leise und zeitgleich so hasserfüllt sein kann. Gestern hätte ich es ihm nicht zugetraut, aber er ist stark. Sehr stark. Ich kann seine Angriffe kaum abwehren. Hinzu kommt, dass ich meine Hände kaum benutzen kann. Plötzlich schreckt er auf. Sein Stock drückt noch immer auf meine Kehle, aber ich kann ihn etwas von mir drücken. Er ist abgelenkt. Das ist meine Cha…was war das? Was auch immer er da gesehen oder gehört hat. Ich habe es ebenfalls bemerkt. Ich schreien. Nein. Ein kreischen. Dann Getrampel. Mein Gegner springt auf und starrt ins Leere. Langsam rappele ich mich ebenfalls auf. Ich will ihn angreifen, aber aus irgendeinem Grund kann ich nicht anders als ebenfalls in die Richtung zu starren, in die auch er schaut. Und dann verstehe ich. Und er offensichtlich ebenfalls. Eine Horde wilder Affen stürmt auf uns zu. Keine Zeit für ihn. Ich muss weg hier. In Sicherheit. Es ist gut, dass ich in den letzten beiden Tagen etwas Ruhe hatte. Sonst wäre ich vermutlich längst ausgezerrt nach dieser Nacht. Ich hänge meinen Verfolger bald ab und auch die Affenhorde scheint sich vorerst auf ihn zu stürzen, da er langsamer ist als ich. Aber ich darf nicht stehen bleiben. Ich darf. Nicht. Stehen bleiben. Also laufe ich weiter. Bis die Sonne irgendwann hoch am Himmel steht. Dann gönne ich mir eine Verschnaufpause. Ruhe. Kein Geräusch ist zu hören. Bin ich entkommen? Ich denke, für das Erste sollte ich in Sicherheit sein.
Kapitel Dreiundzwanzig – Waffenstillstand
Nach den letzten vierundzwanzig Stunden bin ich schlicht und ergreifend am Ende. Das Feuer. Der Angriff. Die Affen. Das Alles ging mir stark an die Substanz. Und jetzt stehe ich hier. Mitten im Nirgendwo und gönne mir meine Pause. Nach einer Weile raffe ich mich auf. Mittlerweile schmerzt mir jeder Knochen. Meine Hände. Selbst mein Bein scheint wieder schlimmer zu werden. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Komplett. Meine Beine tragen mich weiter. Sofern sie es noch können. Und dann – wie aus dem Nichts – stehen mir plötzlich drei Gestalten gegenüber. Jeder scheint aus einer anderen Richtung zu kommen. Und alle sehen genauso erschrocken aus wie ich. Auch sie wirken erschöpft. Und ich kenne jeden Einzelnen von ihnen. Karl. Sowas wie ein Verbündeter bisher. Der Dude. Ihm bin ich erst einmal begegnet. Und mein Angreifer von der letzten Nacht. Wir sind alle alarmiert, aber niemand möchte den ersten Schritt machen. Niemand möchte einen Fehler machen. “Halt mal. Halt mal. Das hat doch keinen Sinn“, tönt es plötzlich von Karl. “Wir sind Alle am Ende und brauchen eine Pause. Was haltet Ihr von einem Waffenstillstand? Nur für die Nacht. Wir alle ruhen hier. Und damit wir nicht wieder so überrascht werden, hält jeder einmal Wache.“ „Ich schlafe nicht, wenn die da Wache hält!“, fährt ihm mein Angreifer über den Mund. “Okay, okay. Was haltet Ihr davon, wenn zwei schlafen und zwei Wache halten?“ Alle zögern. Keiner traut dem Frieden. Aber sie sind genauso ausgelaugt und verzweifelt wie ich es bin. Also stimmen letztendlich Alle zähneknirschend zu. Zuerst schlafe ich. Der Zweite sollte erst der Dude sein, aber nach einem längeren Streit hält der zusammen mit Karl Wache. Clippy. Jetzt ist mir sein Name wieder eingefallen. Karl kennt ihn ja auch. Und auf ihn scheint er etwas zu hören. Gegen Mitternacht wechseln wir. Ich fühle mich überhaupt nicht ausgeruht. Meine Hände schmerzen. Mein Bein tut weh. Meine Glieder fühlen sich an wie Blei. Aber Clippy scheint es ähnlich zu ergehen. Auch ihm fallen trotz seiner Schicht fast die Augen zu. Wie mir auch. Aber keiner von uns will einschlafen. Keiner traut seinem Gegenüber. Letzten Endes schlafen wir beide ein.
Kapitel Vierundzwanzig – Einzelkämpfer
Vertrauen ist ein Luxus, den ich mir nicht mehr leisten kann. Das musste ich lernen. Es dämmert. Und ich bin die Erste, die wach ist. Wenn ich hier bleibe, dauert es nicht lang bis sich Alle gegenseitig die Schädel einschlagen. Die Versuchung ist groß. Die Chance, die sich mir gerade bietet, wird es nicht noch einmal geben. Aber wenn nur einer wach wird. Dann ist es vorbei. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß wie ich das bewerkstelligen soll ohne meine Hände zu benutzen. Also kann ich nur flüchten und hoffen, dass sich alles Weitere von allein erledigt. Sei leise. Sei leise, Nel, und lauf!
Nachdem ich den halben Tag unterwegs war, überkommt mich mal wieder ein altbekanntes Gefühl. Hunger. Nur wie soll ich es dieses Mal anstellen an Nahrung zu kommen? Jagen fällt in meinem Zustand definitiv aus. Und nach dem großen Feuer sind kaum Sträucher übrig geblieben, die noch Früchte tragen. Fischen fällt ebenfalls flach, da es in der Nähe keinen See oder Bach gibt. Abgesehen davon müsste ich mich mit bloßen Händen daran versuchen, da ich kaum in der Lage wäre, einen Stock festzuhalten. Geschweige denn schnell zuzustoßen. Nicht weit von hier kann ich ein Stück Wald sehen, das offensichtlich vom Feuer verschont geblieben ist. Unter anderem einen Baum, von dem eine Liane herab hängt. Ich könnte ja…Ja, die Idee ist gut. Ich muss mich nur kurz zusammenreißen. Ich habe bereits einmal aus einer Liane eine Schlinge gemacht. Aber diese ist nicht für mich gedacht. Nach einigen schmerzhaften Minuten halte ich stolz das Ergebnis in meinen Händen. Daraus sollte ich eine Falle bauen lassen. Wenn es irgendwo in dieser Arena noch ein lebendiges Tier geben sollte, werde ich es mit dieser Falle fangen.
Die Jagd war ein Fehlschlag. Der Hunger wächst. Meine Wunden schmerzen. Wie es aussieht hat sich mein Bein wieder entzündet. Ich nutze die Gelegenheit, um den letzten Rest meines Trinkwassers über meine verbrannten Hände zu träufeln, um ihnen wenigstens etwas Linderung zu verschaffen. Aber das ist nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Angesichts dieses beinahe komischen Wortspiels muss ich fast grinsen. Vielleicht ist es auch nur die Erkenntnis über die verzweifelte Lage. Ich bin an einem Punkt, an dem ich Nichts mehr tun kann. Nichts mehr als abzuwarten und es auszusitzen. Ich sitze unter dem Ast um das letzte bisschen Schatten in dieser Arena zu erhaschen. Und dann holt mich ein ohrenbetäubender Knall aus meinen Gedanken. Vor Schreck kippe ich beinahe um und liege der Länge nach auf dem Boden.
Dann ertönt eine mechanische Stimme: “Die Spiele sind offiziell beendet. Den diesjährigen Spieler stellt District 4! Bitte warten Sie dort, wo sie sind. Sie werden umgehend abgeholt.“ Ich weiß überhaupt nicht, was hier gerade passiert. Mein Kopf schafft es nicht, das eben Gehörte zu verarbeiten. Plötzlich hält ein seltsames Gefährt neben mir und eine kleine Armee an Männern springt heraus. Wahrscheinlich sind es nur acht Leute, vielleicht auch zehn. Aber in meiner Erschöpfung nehme ich Alles etwas verzerrt wahr. Die Männer tragen mich in das Fahrzeug und legen mich auf eine Bahre. Danach fallen mir die Augen zu und ich kann mich an Nichts mehr erinnern.
Epilog – Gescheitert
Als ich wieder aufwache, befinde ich mich in einer seltsamen Halle. Alles ist hell. Weiß. Wirkt seltsam steril. Mein Bein ist geschient. Meine Hände fühlen sich kühl an und sind in einem Verband eingewickelt. “Halten Sie sich ruhig. Wir haben Sie versorgt. Ihre Hände sind schlimm verbrannt, aber wir konnten das meiste von ihrer Haut wieder herstellen. Sie werden keine Schönheitspreise mehr damit gewinnen, aber sie werden in der Lage sein, sie wieder voll zu benutzen. Ihr Bein war angebrochen. Nichts Ernstes. Wir haben es gerichtet und geschient. Mit etwas Ruhe sollte das in wenigen Wochen wieder in Ordnung sein. Außerdem…“ Es gelingt mir nicht, meinem Gegenüber so lang zuzuhören. Ich dämmere bereits wieder weg.
Als ich aufwache, finde ich mich in einem schön hergerichteten Zimmer wieder. Auf einem bequemen Bett. Neben mir sitzt jemand auf einem Stuhl. “Ich gratuliere! Du hast es tatsächlich geschafft.“ „Geschafft?“ „Die Spiele. Du hast gewonnen.“ „Ich habe…gewonnen?“ „Ja. Nachher findet die Ehrung durch den Präsidenten statt. Keine Sorge, Du wirst dorthin gebracht. Du wirst nicht laufen müssen. Nach der Ehrung gibt es noch ein Siegeressen und morgen früh wirst Du umgehend zurück nach Hause gebracht. Meinen Glückwunsch!“ Ich verstehe überhaupt Nichts. Der Abend zieht an mir vorbei wie im Rausch. Ich kann nicht einmal das Essen genießen, da ich meine Hände kaum bewegen kann. Irgendjemand schiebt mich in einem Rollstuhl durch die Gegend. Alle gratulieren mir zum Gewinn der Spiele. Aber die Schmerzmittel stellen mich derart ruhig, dass ich das nur durch einen Schleier wahrnehme. Irgendwann liege ich in einem Bett. Meine Augen fallen sofort zu.
Die Nacht kommt mir vor wie ein Wimpernschlag. Als ich aufwache ist es bereits helllichter Tag. Ich habe kaum Sachen mit hierher genommen, also muss ich auch nicht viel wieder mit zurück nehmen. Meine Stiefel stehen an meinem Bett und das Foto befindet sich in meiner Jackeninnentasche. Ein kleiner Trupp Wachmänner eskortiert mich zum Bahnhof. Dort werde ich in den Zug gesetzt. Mein Rollstuhl bleibt zurück. Noch immer benebelt schlafe ich ein.
Als das Transportmittel bremst, wache ich auf. Und werde von Svea, Rasmus und Holgierd in Empfang genommen. Es kommt mir vor als wäre es Jahre her als ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Selbst Svea hat Tränen in den Augen. Genauso unsanft wie ich vor wenigen Wochen in die Bahn gezerrt wurde, werde ich nun hinaus gestoßen. Rasmus fängt mich auf und Svea fällt mir sofort um den Hals. Nach einer Bärenumarmung von Holgierd nimmt er mich genauer in Augenschein, zieht die Augenbrauen zusammen und trägt mich. Die drei bringen mich zurück zu unserem Unterschlupf. Dort angekommen, werde ich von allen Anwesenden umringt. Sie reden so wild durcheinander, dass ich mich kaum auf eine einzige Stimme konzentrieren kann. Nachdem mich alle ausgiebig begrüßt haben, tritt Lorenzo hervor. Sein Gesicht verdüstert sich als er mich ansieht. Seine Mundwinkel scheinen noch weiter herunter zu hängen als sonst schon. Dann mustert er mich von oben bis unten. “Der Präsident lebt noch?“ Seine Miene verrät mir, dass er die Antwort bereits kennt. Er weiß genauso gut wie ich, dass ich keine Gelegenheit hatte, meinen Auftrag auszuführen. Dennoch ändert das Nichts an der Tatsache. “Du hast versagt.“ „Jetzt mach‘ mal halblang“, fährt ihm Holgierd ins Wort, doch Lorenzo bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Mit einem herablassenden Blick schaut er mir tief in die Augen. Plötzlich beginnt er zu grinsen. “Aber ich bin verdammt froh Dich wieder zu sehen!“ Er schließt mich beinahe noch fester in die Arme als Holgierd. Dass er kräftig ist, weiß ich, aber diese Kraft hätte ich ihm nicht zugetraut. Oder es kommt mir gerade nur so vor, weil ich ohnehin geschwächt bin. “Nellie. Ich bin so froh, dass Du wieder da bist. Ich dachte, wir müssten Deinen Namen neben die von Sebastian, Fleur und Rupert setzen. Komm mit. Kommt Alle mit! Heute gibt es einen Grund zu feiern.“ Dann senkt er seine Stimme wieder. “Wir haben heute unsere Schwester wiederbekommen.“ Und er mustert mich mit so einem hoffnungsvollen Lächeln wie ich es bei ihm seit Jahren nicht gesehen habe.