Es ist 2017 und die HipHop-Welt hat immer noch nicht einstimmig den besten Rapper der Welt wählen können – natürlich ist das auch gut so. Das Problem bei dem Ganzen ist nämlich, dass es kein einziges objektives Kriterium gibt, anhand dessen man den "besten" bestimmen könnte – wer der beste ist, ist hochsubjektiv, damit müssen wir uns auch in Zeiten des Silbenzählens abfinden. Daher wollen wir einen kleinen Ein- oder Überblick über die vielseitigen Facetten des Fanseins und des Raps in 2017 geben und deswegen werden einzelne Mitglieder der Redaktion ihren Lieblingsrapper vorstellen; absolut subjektiv, ohne auf Dauer angelegt zu sein und voller Fanboytum. Viel Spaß!
Wie fange ich das jetzt an? Wie fängt man eine Lobrede auf einen der besten Rapper, der besten Musiker des Landes, an? Die Rede ist von Goldroger, einem Künstler, der in Rapdeutschland derzeit unvergleichlich ist. Ein Attribut, das sich dieser Tage leider Gottes die Wenigsten auf die Fahne schreiben können.
Laut des verdammten Weckers ist das ein Dalí Gemälde, tragische Szene/
Wie ich so dalieg, vollkommen lethargisch nach der schamanischen Nahtoderfahrung auf LSD/
Von der Antike bis zur Neuzeit waren Genies nun einmal Träumer, weil aber Magie Physik durch Wollen heißt/
Das muss man wissen, ich hoff', ihr könnt mir folgen, wenn ich es folger
(Goldroger auf „MK Ultra“)
Aber von vorne. Der erste Kontakt meinerseits mit Goldroger ist mittlerweile dreieinhalb Jahre her. Semi-motiviert studierte ich BWL, hatte zu viel Zeit, saß zu Hause vor meinem Laptop und klickte mich durch die weite Welt des Raps auf Youtube. Nach eher zweifelhaften Songs diverser MCs stieß ich in der Vorschlags-Leiste auf das MOT. "Gold Roger - Schiene der Geschichte prod. Hawk One (Original: Freundeskreis)" stand da und ich gebe zu, getriggert hat mich Freundeskreis und nicht dieser irrelevante Rapper aus irgendeinem Internetbattleturnier. Mit diesem Klick begann der mittlerweile dreieinhalbjährige Feldzug des späteren MPM-Signings in jegliche meiner Musikordner und auf meinen Plattenspieler. Ebenso ist die Antwort auf die Frage "Kannst du mir 'n nicht so bekannten Rapper empfehlen" seitdem stets zuallererst "Klar. Goldroger!" Natürlich steht er mit philosophischen Texten nicht allein auf weiter Flur, als prominente Beispiele werden hier immer wieder die Herren Prezident oder, erst kürzlich von meinem Kollegen Franz geadelt, Käptn Peng genannt. Doch hier haben wir etwas Einzigartiges.
[youtube]J2L6ni7Zo6w[/youtube]
Denn der Wahlkölner passt in keine Schublade. Jedes Stück Musik ist ein Kunstwerk, das eben nicht den einfach Weg des Kopierens von bereits Bekanntem geht, sondern experimentiert. Es wurde Abstand genommen von klassisch patternbasierten Samplebeats. Nein, vielmehr wurden hier in interessanter Art und Weise von Dienst&Schulter eingespielte Gitarren verwendet, um das gewünschte Klangbild zu erzeugen. Während auf "Räuberleiter" noch mit oldschooligem Samplebeat in Kombination mit durchdachten Texten gearbeitet wurde, perfektionierte Goldroger seine Musik für sein mittlerweile ein Jahr altes Meisterwerk "Avrakadavra" und lieferte für mich damit eins der besten Alben dieses Jahrtausends ab. Hier harmoniert die Musik mit den Lyrics, jede Sekunde ist durchdacht und die passenden Videos, die Stimmung der Songs durch Konzept und Kameraarbeit wunderbar einfangend, runden den Gesamteindruck ab. Anders als bei vielen Releases merkt man hier deutlich, dass die Musik den Texten auf den Leib geschneidert wurde und vice versa beim Schreiben auf das Instrumental eingegangen wird. Allzeit wirken Breaks, neu einsetzende Riffs und instrumentale Zurückhaltung bewusst eingesetzt, den Text akzentuierend und nicht um der Variation willen eingesetzt.
Spiel die Platte ruhig rückwärts, selbst dann wird sie textlich noch vom Feuilleton gelobt/
Goldie der I. – Dichterfürst – sterb 'auf der Bühne ganz à la Moliere/
Ich bin ein Blumenkind nicht so wie du jetzt denkst Fleur du mal de Baudelaire/
Mach auf tiefenentspannt so wie Jules Verne – aber nononono au contraire/
Mein Kopf ist gefickt doch wahr den Optimismus als wär ich Candide von Voltaire, yeah
(Goldroger auf "M.I.D.A.$.")
Karten auf den Tisch. Goldie versteht beim ersten Hören niemand. Und ich meine das gar nicht inhaltlich, sondern rein phonetisch. Gerade in Kombination mit seiner Wortflut ist das natürlich eine ungünstige Kombination. Aber das stört nicht, ganz im Gegenteil. Auch beim zehnten Hören (oder eher: Hinhören) entdeckt man noch einen neuen Querverweis auf popkulturelle Fakten und Mythen ("Komm frag John Lennon man, ich bin das Walross und ja es stimmt Paul ist tot/ [...] Und wenn du wissen willst, was ich von deutschem Rap halte, dann frag Noel Gallagher/ Stell Fler an die Wonderwall, sing Live Forever, drück ab und beende das"), Werke bekannter Philosophen ("Der Hedonist taucht auf aus Nebel und Neonlicht/ Mein Rap ist wie mit Epikur im Kepos sitzen – aufbauend") oder jahrtausendalte Mythen ("Sonn mich im güldenen Glanz meines Thrones hab/ Das Füllhorn betankt mit Ambrosia"). Seine Musik regt an zum Nachforschen, zum Auseinandersetzen mit dem eben Genannten. Und vor allem laden seine Texte ein zum Zuhören und Nachdenken. Das vermitteln von Inhalten über die textliche Ebene gehört seit jeher zu einem der wichtigsten Bestandteile des Raps, ist jedoch in den letzten Jahren in vielen Fällen untergegangen. Gegen den Trend der heutigen Mainstreammusikkultur wird hier jedoch keine eingängige, leicht verdauliche Einmalkost produziert, sondern bewusst eine sperrige, komplexe Klangwelt erschaffen, in der Goldrogers vielschichtige Texte erst zur vollen Entfaltung kommen. Eine Klangwelt, die eben nicht einem Genre zuzuordnen ist, sondern sich über Grenzen hinwegsetzt und so etwas Eigenes erschafft.
Du rempelst mich an und ich seh' an dei'm Blick, eigentlich ist's dir egal/
Aber dein peinliches Gehabe zwingt dich jetzt hier wohl deinen Schein zu wahren/
Ich scheiß drauf, wie du Geld kriegst, auf deine kleingeistige Weltsicht/
Du fragst "Weißt du überhaupt, wer ich bin?", ich sage "Digga, weißt du doch selbst nicht"
(Goldroger auf „MLXMLK“)
Doch wenn wir über Goldroger reden, müssen wir im Zuge von "Avrakadavra" auch über die Produzenten des Albums, Dienst&Schulter, reden. Die beiden Kölner tragen nämlich einen mehr als beachtlichen Teil dazu bei, dass das Album das geworden ist, was es ist. Der eine Teil zuständig für den Beatbau, der andere für die Gitarrenarbeit auf einer Strat in Kombination mit einem Vintage-Amp, sorgen die Instrumentals dafür, dass sich das gesamte Album wie ein Trip anhört. Die klaren Soundeinflüsse der späten 1960er Jahre zusammen mit den modernen Mitteln der Musikproduktion stellt ein Experiment dar, an das sich bis dahin noch niemand in Deutschland gewagt hat. Die Gitarrenarbeit auf "Avrakadavra" erinnert an die späten Beatles, an Hendrix, an die ausschweifend-trippigen Intros von Pink Floyd und stellenweise auch an die frühen Doors. Dennoch wird hier nichts kopiert, die Kombination mit dem klassischen Drumcomputer erschafft etwas Neues, das sich zwar den Vorwurf der oberflächlichen Kopie von Psychrock-Songs sicher nicht entziehen kann, jedoch gerade durch die Drums in Kombination mit Goldrogers Raps starke Gegenargumente zu liefern weiß. Anlehnung? Sicherlich! Kopie? Sicher nicht! Und das Konzept geht auf: Trotz musikalischem roten Faden bleiben die Songs distinkt, keiner wie der andere und stellen absolute Unikate dar. Während "Räuberleiter" bereits starke Texte und großartige Beats zu bieten hatte, hievt bei Goldrogers neuestem Werk die Produktion das Album noch einmal auf ein ganz neues Level. Jedes Gitarrenriff sitzt, die Dynamik ist wunderbar, alles ist in sich stimmig. Grund dafür ist sicherlich auch, dass Goldroger bei der Produktion mitwirkte und so nicht die geläufige "Rapper pickt sich Beat und rappt drauf"-Konstellation entstanden ist. Hier wurden Beat und Lyrics nicht separat produziert, mittels DAW im Stile einer musikalischen In-vitro-Fertilisation steril kombiniert und abschließend passend gemischt. Hier findet sich eine musikalische Einheit wieder.
[youtube]KIgMbg-w-68[/youtube]
Jetzt mag man natürlich sagen, dass der Musik die Energie fehlt und das Ganze, frei nach dem Sprachduktus des lokalen Dorfdiscogängers, "mehr ballern muss". All jenen unter Euch, bei denen Texte oder raffinierte musikalische Produktionen nicht im Vordergrund stehen, empfehle ich einen Konzertbesuch beim Kölner, denn auch live zählt Goldie zu den besten des Landes. Auf der Bühne transportiert er eine unglaubliche Energie, die bei jedem meiner Konzertbesuche das gesamte Publikum mitgezogen hat. Und in dieser Hinsicht muss ebenfalls ein Augenmerk auf Dienst&Schulter gelegt werden: Die Instrumentals werden live gespielt und die Gitarrenarbeit ist, wie auf der Platte, absolut exzellent. Hier steht kein gelangweilter Rapper auf der Bühne und läuft stumpf von rechts nach links, während er zum 20. Mal in 23 Tagen dieselben inhaltsleeren Lines runterrappt. Hier steht eine Band auf der Bühne, die hungrig ist und Bock auf das Publikum, Bock auf einen geilen Abend hat.
Und ich könnt ja 'ne Glosse schreiben für die Zeitung/
Mit dem Titel Volkswirtschaftlicher Kosten-Nutzen des Freitods/
Wende mich hoffnungssuchend ans iPhone/
Und als die Bahn einfährt, frag Siri, mit Kopfsprung oder mit Salto/
Doch hab keine Todessehnsucht im Leben/
Die Möglichkeit zu gehen, macht es so gesehen erst erträglich/
In einer Welt, wo es statt Hoffnung täglich nur mehr Probleme gibt/
Wird kein gerechter Gott uns diesen Notausgang je in Serie geben
(Goldroger auf "Harry Haller")
Den letzten Abschnitt möchte ich einem speziellen Song widmen: "Harry Haller". Basierend auf dem Roman "Der Steppenwolf" von Hermann Hesse schafft es kein anderer Song auf dieser Welt, mich bis heute bei jedem Hören mit offenem Mund und zitterndem Körper zurückzulassen. Musikalisch passend minimalistisch gestaltet liegt der Fokus vollkommen auf dem Text, eine bessere Wahl hätte man hier nicht treffen können. Jede Zeile trifft mich ins Herz und stellt den inneren Zwiespalt dar, den heutzutage sicherlich viele von uns fühlen. Jedoch nicht in Form von Sprüchen, die so auch auf tumblr oder Instagram unter Pubertäts-Depressionsbildern von 14-Jährigen (hier verweise ich auch auf den kürzlich von Destroy Degenhardt und Prezident veröffentlichten Track "Carhartt Depression") stehen könnten, sondern erfrischend anders auf einer deutlich tieferen Ebene. "Harry Haller" stellt zugleich live eine einzigartige Erfahrung dar, wird doch der zutiefst melancholische Text gemischt mit einer unfassbar kraftvollen Performance. Als Höhepunkt von "Avrakadavra" lege ich "Harry Haller" daher jedem, ausnahmslos jedem, ans Herz. Wenn Ihr mit dem ganzen traurigen Inhalt nichts anfangen könnt, so hört ihn Euch trotzdem an. Und auch wenn dieser Song ein textlich durchweg pessimistisches Album suggeriert, dem ist nicht so. Das bisherige Werk Goldrogers ist geprägt von Zusammenhalt. Von Positivität. Und von Liebe. "Wo ist die Liebe?", heißt es immer wieder auf seinem Twitter-Acount. Ja, wo ist sie?
[youtube]VECrJJ17SYQ[/youtube]
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(Nicolas Blum)