Der Geschmack der Freiheit
Mit weit ausgebreiteten Schwingen gleitet ein Weißkopfseeadler über den Potomac River hinweg. In seinem Rücken liegend erheben sich altehrwürdig die Blue Ridge Mountains, zu seinen Flanken erstrecken sich die saftigen Nadelwälder Virginias. Doch sein Flug führt ihn gen Süden, der Chesapeak Bay und den grenzenlosen Weiten des Atlantiks entgegen. Er passiert eine dem Strom nahe Blockhütte. Vor ihr spaltet ein Mann im fließenden Übergang von 30 zu 40 Jahren gereiftes Holz zu Scheiten. Er tut einen letzten Hieb, legt das Beil bei Seite und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Zu ihm tritt eine makellose Frau von blonder Schönheit. Lächelnd reicht sie ihrem Mann ein Glas selbstgemachter Limonade mit Eis, das er ihr dankend abnimmt. Er trinkt einen Schluck der Limonade, wobei das Glas einen Sonnenstrahl auffängt und dem tiefen Dekollete der prallgefüllten Bluse seiner Frau entgegenwirft, wo es auf einen silbernen Anhänger trifft, der das Licht auffächert und ihr Gesicht in ein warmes Strahlen hüllt. Der Mann setzt das Glas ab. Seine Frau beugt sich zu ihm hinüber und versucht ihn zu küssen, doch der Mann weist sie mit einer sachten Berührung seiner Hand zurück. Er greift in seine Hemdstasche und zieht eine Schachtel Zigaretten heraus. Er öffnet sie und führt eine Zigarette zum Mund, während seine Frau mit gespielter Beleidigung die Arme in die Seiten stemmt. Der Mann zündet sich die Zigarette mit einem Streichholz an und nimmt einen tiefen Zug. Blende. Landschaftbild mit Blockhütte, Fluss und Nadelbäumen. "Virginia's Finest – Der Geschmack der Freiheit" erscheint als Schriftzug darüber, während aus der Ferne der Schrei des Weißkopfseeadlers zu hören ist.
"Das ist doch pure amerikanische Propaganda. Fehlte nur noch, dass der Sohnemann, das Sternenbanner schwenkend, mit Waschbärmütze aus der Hütte gerannt käme und 'U-S-A! U-S-A!' blökte. Aber so sind die Amis. Wollen ja immer nur für alle das beste. Seht her, wir bringen der Welt freedom and democracy!" Moritz wurde unwillkürlich aus seinen Gedanken gerissen. Bis eben war ihm der fast leere Kinosaal abgesehen von seinen Begleitern und ihm noch gänzlich leblos erschienen. Doch die lautstarke Empörung aus einer Reihe hinter ihm hatte diesen Status Quo aufgebrochen. "Und die Darstellung dieser aufgetakelten Tussi mit ihren Plastikmöpsen. Einfach nur sexistische Kackscheiße sowas! Kann mir doch niemand erzählen, dass die Dinger echt sein sollten. Liebe Männer, große Brüste hängen nunmal, findet Euch damit ab und hört auf uns mit Eurem Gender-Imperialismus ständig unnatürliche Schönheitsideale aufdiktieren zu wollen! Weckt in mir einfach jedes Mal wieder den Wunsch zu kotzen, wenn ich sowas sehen muss." "Also in mir hat der Spot nur den Wunsch geweckt, eine zu rauchen," erwiderte eine Moritz bekannte Stimme. Falkner, der bis eben noch zwei Plätze neben ihm gesessen hatte, war inzwischen aufgestanden und hatte sich der Ermpörung aus den hinteren Reihen zugewandt. Moritz konnte sich ein Lächeln über Falkners Kommentar nicht verkneifen, obschon er wusste, dass sein Freund es sicher nicht dabei bewenden lassen würde. Moritz hatte sich an die permanente Konfliktsuche Falkners bereits gewöhnt, hieß sie aber nach wie vor nicht gut. "Ja, aber natürlich, was auch sonst!?," ereiferte sich die Frauenstimme hinter Moritz. "Immer brav mit dem Strom schwimmen und bloß nichts hitnerfragen. So seid Ihr glattrasierten Fatzken in Euren Polo-Hemden doch alle! Nur weiter so. Schließ' Dein pseudoelitäres Studium ab, sei ein artiger Konsument, verhalte Dich normal, glaub', was die Nachrichten Dir erzählen, vertrau' den Banken und Großkonzernen, lass' Dir vom politischen Establishment diktieren, was Du zu tun oder zu lassen hast und jetzt sprich mir nach: 'Ich bin frei'!"
Auf einer Leinwand auf der Leinwand erklärte gerade ein junger Kino-Mitarbeiter dem fiktiven Publikum eines fiktiven Kino-Saals, dass er ihnen vor der Vorstellung gar keine normale Soda Sola, sondern eine Soda Null verkauft hatte. Die Kino-Insassen lächelten verdutzt, weil es ihnen gar nicht aufgefallen war und die Soda Null genau so schmeckte, wie die Soda Sola. Nur, dass die Soda Null gar keinen Zucker enthielt; faszinierend. "Oh, ich bin frei, Du bist frei, wir alle sind frei," erwiderte Falkner höhnisch. "Das hier ist schließlich ein freies Land, in dem es mir frei steht, meine Soda Null hier zu nehmen," Falkner entnahm dem Getränkehalter seines Sitzes einen anderthalb Liter fassenden Plastikbecher. "Mich zu Euch 'rüber zu beugen und ganz aus Versehen meinen Becher fallen zu lassen, weil ich unglücklich gestolpert bin." Moritz brauchte es gar nicht mit eigenen Augen gesehen zu haben, um zu wissen, dass Falkner seinen Becher soeben mit einer weiten Ausholbewegung in Richtung der Frau, die hinter ihnen saß, geschleudert hatte. Ein Aufschrei, erst der Überraschung, darauf des Ekels bestärkten ihn in seiner Vermutung. Als Moritz direkt darauf vernahm, wie zwei Personen hinter ihm, eine davon unter lautem Gezeter, den Saal verließen, warf Falkner ihnen noch nach:"Sorry, unglücklich gestolpert, aber keine Angst, geht sicher wieder ganz leicht aus den Klamotten raus, Mäuschen. Ist schließlich gar kein Zucker d'rin. Dafür der volle Geschmack der Freiheit, genieß' ihn, Püppi!" Moritz reagierte einfach gar nicht. Er war immer noch realtiv neu in der Gruppe und wollte es sich mit den anderen nicht durch ein übereiltes Zurechtweisen Falkners verderben. Dafür rollte Jesko mit den Augen, als Falkner wieder Platz genommen hatte.
Auf der Leinwand lief der erste Trailer an. Er begann mit dem Einblenden eines Zitats:"Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen." - George Orwell. Moritz hörte Falkner kichern.