Beiträge von Philipp_



    01. Showbeginn
    02. Terrorist
    feat. MoTrip
    03. Feind Bild
    04. Scheinfranzose
    05. Drama
    feat. Ali A$
    06. Weltraum feat. Megaloh
    07. Erdbeere
    08. Niemand (Was wir nicht tun) – Rap Takeover Version
    09. Scheiße labern (Freestyle)
    10. Poww!


    Spontaneität ist nicht nur eines der am häufigsten falsch geschriebenen Wörter der deutschen Sprache. Es ist auch eine recht selten auf neueren Musikveröffentlichungen zu findende Eigenschaft. Der Anspruch an Alben ist oftmals technische Ausgereiftheit, ein ausgefeiltes Konzept und aufwändige Produktion, nahe am Perfektionsgrad. Das ist per se nicht negativ und die letzten Soloalben von Kanye West und Drake in den Vereinigten Staaten haben demonstriert, wie perfekt das im Ergebnis aussehen kann. Trotzdem ist es gerade dann angenehm, wenn eine EP erscheint, die einen reinen Late Night Session-Charakter besitzt und im Falle der Juice-EP von Samy Deluxe, "Baus Kingskis Late Night Sessions", diesen quasi programmatisch im Titel nach außen trägt. "Fast alles von [...] diesen Songs ist wirklich so entstanden: Beat gemacht, Text geschrieben, aufgenommen – alles in einer Nacht", kommentierte Samy Deluxe diese EP kurz vor Erscheinen.


    Es ist daher mühselig, ständig Vergleiche zum parallel erschienenen Album "SchwarzWeiss" zu ziehen. Das war ein storytelling-lastiges, tiefgängiges Chartrelease mit seinem eigenen Konzept und den eigenen Regeln einer vollwertigen Studioproduktion. Die JUICE-EP ist weder die Ergänzung, noch eine Erweiterung oder Parallelveröffentlichung. Sie ist eine Art künstlerisches Statement mit Freestyle-Charakter und Session-Atmosphäre. Das braucht weder deepe Lyrics, noch ausgefeiltes Storytelling. Schon auf dem zweiten Track mit MoTrip dominiert daher die Lässigkeit und das Spontansein mit Ideen und Texten:


    "Doch ich wehre mich, ich rede nicht/
    Von großen langen Hanteln, deine sogenannten Kanten/
    Sehen aus wie Skelette/
    Und dein Loser-Team will fronten/
    Doch hier sitzen in der Regel 20 Männer um den Dreh/
    Wie Producer-Teams in Compton/
    "
    (MoTrip auf "Terrorist")


    Es überrascht nicht, dass eine Arbeitstechnik mit Fokus auf Sessions und Spontaneität am Besten mit kreativen Studiogästen funktioniert. Die Parts von MoTrip, sowie Ali A$ auf "Drama" mit der dichterisch bemerkenswerten Line "Ich bin kein Pedo, nur weil ich gern Boobies befummel" gehören zu den Besten auf der EP. Das gilt insbesondere auch für Megaloh, dessen Feature auf dem atmosphärischen "Weltraum" viel dazu beiträgt, dass dieser Track wohl der gelungenste der ganzen EP sein dürfte.


    "Fressrausch im Candle Light, sechstausend Rapper/
    In meinem Brettbauch, Rap braucht Cash und 'ne Sendezeit/
    Programmier' mein GPS auf Unendlichkeit/
    Kidnappe Rap und bin weg, Raumschiff Enterprise/
    "
    (Megaloh auf "Weltraum")


    Samy Deluxe selbst bleibt über die gesamte Spielzeit hinweg routiniert und flowtechnisch souverän. Inhaltlich kommt nichts Vielschichtiges und trotz vieler gelungener Lines fehlt es manchmal an einer inhaltlichen Auflockerung durch Selbstironie oder wirklich packende Lines. Selbst ein technisch gut gemachter Track wie "Scheinfranzose" ist oft gefährlich nahe an der Monotonie. Wenn Samy Deluxe den Hörer wirklich mal mitnimmt, geschieht das eher selten und insbesondere auf dem starken Schlusspunkt "Poww!":


    "Is' kein schöner Anblick, ich bin so garstig und grantig/
    Strophen so verdammt sick und tiefer als der Atlantik/
    An der tiefsten Stelle, ich mach' hier 'ne Riesenwelle/
    Verpass' euch 'ne akustisch' und visuelle miese Schelle, Poww!/
    "
    (Samy Deluxe auf "Poww!")


    Die Beats sind geprägt durch harte Synthies ohne tanzbare Ausrichtung. Vom Stil her minimalistisch und direkt produziert, geben sie der ganzen EP eine recht harte und direkte musikalische Ausrichtung mit Höhen ("Scheiße labern (Freestyle)") und Tiefen ("Erdbeere"). Ein Nervfaktor ist durchaus vorhanden, hängt aber sehr vom persönlichen Geschmack ab. Denn ohne an dieser Stelle auf zu diplomatische Weise den subjektiven Geschmack bemühen zu wollen: Die Bewertung einer solchen EP mit völlig anderem Charakter und Ausrichtung als ein Studioalbum hängt stark davon ab, wie sehr jeder Einzelne mit dieser Form von Rap vertraut ist und den hohen Grad von Spontaneität positiv wertet oder nicht. Es ist sicherlich keine EP, die in der Discographie von Samy Deluxe besonders heraussticht und einen höheren Anspruch hat, als kurzweilige, ehrliche Unterhaltung. Aber diesen Anspruch erfüllt sie. Gut so.



    Philipp_

    [REDBEW]662 [/REDBEW]

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    01. Start
    02. THCAN
    03. Schlechter Mensch
    feat. Olson Rough & Migo
    04. Hunger
    05. Klotz
    feat. Index
    06. Trümmertetris
    07. Pause
    08. Totgeburt
    09. Mutterschutz
    feat. emkay & Weekend
    10. Flüsternde Schreie feat. FiST & Djin
    11. Glasscherben
    12. Papierflieger
    feat. Timecy & Olson Rough
    13. Roter Schnee
    14. Ende


    Eine Allegorie auf das Leben kann man "Tetris" nicht nennen. Was Alexey Pajitnov 1984 entwickelte, war und ist eine clevere Spielidee, komponiert aus unterschiedlich aufgebauten Blöcken und der Kunst der schnellen Kombinationsgabe. Versucht man es trotzdem, so ergeben sich immerhin ein paar zugegeben sehr fantasievoll zusammengesetzte Parallelen. Die vielleicht wichtigste: Begonnen wird auf einem unbebauten Spielfeld und jede neue Herausforderung muss individuell bewältigt werden. Was intelligent geplant und umgesetzt wird, verschwindet später; und mit steigender Fähigkeit erhöht sich auch der Anspruch. Nicht zuletzt ist das Spiel immer in einer Spannungsbalance aus bereits Aufgebautem und nur begrenzt planbarer Zukunft und in diesen Kontinuitäten muss eine schlüssige Strategie gefunden werden. Wenn die Ecken im echten Leben nur so perfekte Kanten hätten und die Teile immer direkt ineinander greifen würden. Geht es nach kaynBock, dann bleibt von den sieben bunten Tetris-Formen im echten Leben nicht mehr übrig als Trümmer, die nicht irgendwann verschwinden, so als wäre nie etwas gewesen:


    "Kannst du seh'n, wie überall meine Trümmer fliegen/
    Komm, lass uns mit ihnen Tetris spielen/
    Kein Stück passt ineinander, keins zu dem ander'n/
    Am Besten zurück zum Anfang/
    Wo ich nichts zerstört hab'/
    Wo meine Welt auch noch mir gehört hat/
    Ich hab' diesen Ort noch nie besucht/
    Doch ich kann hören, wie er mich ruft/
    "
    (aynBock auf "Trümmertetris")


    Das Spannungsgewicht zwischen eigener Vergangenheit, persönlich Erlebtem und einer festgefahren scheinenden Zukunft ist ein zentrales Motiv des ersten Longplayers von kaynBock. "Jeder stirbt, aber nicht jeder lebt" heißt es im stimmungsvollen "Intro" beinahe prophetisch. Was das Leben ausmacht, ist weniger eine feststehende Gewissheit als dauernde und schmerzhafte Selbstvergewisserung. So ist "Schlechter Mensch" das Eingeständnis der eigenen Schwächen im Rahmen eines nachlässigen Umgangs mit Verantwortung und Zwischenmenschlichem, ohne aber in Selbstmitleid abzugleiten. "Wo hört eigentlich das Glück auf, wo fängt die Freiheit an?", fragt Olson Rough am Ende seines Parts. Am Schluss beinhaltet Freiheit immer die Chance des Versagens. Wenn Fehler uns auch nicht zu schlechten Menschen machen, so bleiben sie doch Teil der Erinnerung. Einer Erinnerung, der sich jeder stellen muss, wie das metaphorisch aufgeladene "Glasscherben" in nachdenklichen Tönen rekapituliert:


    "Jeder trägt ein Päckchen mit sich rum/
    Ein ungutes Gefühl gebündelt aus Erinnerungen/
    Am besten vergessen, was man will, zutiefst/
    Um sich wieder daran zu erinnern, was man verdient/
    So steh' ich vor einem Scherbenhaufen/
    Unüberwindbar, weil ich nicht dran glaube/
    "
    (kaynBock auf "Glasscherben")


    Hoffnung bleibt wenig, wenn man genauer zwischen den Zeilen liest. Als "Kind ohne Held" ("Trümmertetris") orientierungslos in einer Welt permanenter Herausforderung: "Ich will weg, einfach weg, ohne zu wissen, wohin" heißt es im Titelsong trotzig. Nachahmung bekannter Vorbilder ist unmöglich und eigene Wege sind bekanntlich schwer zu beschreiten, entstehen sie ja erst beim Gehen. "There ain't nobody left but us these days" sang einst Bon Jovi in "These Days" und auf wenigen Alben der vergangenen Zeit war dieses Motto künstlerisch präsenter als auf diesem. Der neben dem deprimierenden Storyteller "Roter Schnee" schönste und viel zu kurze Song des Albums, "Papierflieger", nimmt sich dieser Thematik in einer beinahe poetischen Sprache an:


    "Schnelle Drogen, wir tanzen auf totem Boden/
    Gepflastert aus Kindheitserinnerungen unserer Idole/
    Getrieben von der Idee, dass mal alles gut ist/
    Doch man erwartet zu viel, wenn man sich selbst nicht genug ist/
    "
    (kaynBock auf "Papierflieger")


    Produziert wurde der Track passenderweise von Exzact, der neben "Papierflieger" mit "Glasscherben" und "Hunger" die besten Produktionen des Albums beisteuert, dicht gefolgt von Levon Supreme, der sich für das "Intro" und das innehaltende "Pause" verantwortlich zeigt. Die Stilrichtung ist elektrisch, das Gesamtergebnis aber niemals steril. Das sieht bei den restlichen Produktionen des Albums, die entweder zu verspielt ("Totgeburt") oder nervig überproduziert ("Flüsternde Schreie") ausfallen, schon anders aus. Ohnehin offenbart "Trümmertetris" seine größten Schwächen an den Stellen, wo es entweder besonders witzig sein will ("Mutterschutz") oder einfach nur peinlich hart ("Klotz").


    Das ist so ärgerlich wie vielsagend: Für eine durchgehend kreative und vielschichtige Veröffentlichung fehlt kaynBock inhaltlich wie technisch noch das umsetzbare Konzept. Für einzelne Glanzpunkte fehlen die starken Singles, fehlen die wirklich packenden Produktionen und Texte, für ein konsistentes Konzeptalbum fehlen die konsequente stilistische Umsetzung und der notwendige Feinschliff im Songwriting. Der beste Featuregast des Tapes, Olson Rough, macht in seinem Part auf "Schlechter Mensch" vor, wie es geht. So bleibt es aber insgesamt an vielen Stellen ein fragmentarisches Tape mit guten Ansätzen, das nicht nur inhaltlich eine Selbstsuche ist, sondern auch künstlerisch. Immerhin: "Spiel es durch und du weißt, wer du bist" heißt es da am "Ende" und was bleibt, ist nicht allein die Erkenntnis, dass im Wissen um die eigene Persönlichkeit der Schlüssel für die Zukunft liegen kann. Es hat auch den Anschein, dass sich hier ein Künstler freigeschrieben hat von schwierigen Themen und Raum geschaffen hat für zukünftige Themen und künstlerische Freiheiten. Ob es so ist, wird sich zeigen. Am Ende folgt das Leben keiner Logik. Zumindest nicht jener von farbigen Klötzen.



    (Philipp_)

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    01. Intro
    02. Geheimtipp
    03. Dich zu battlen wäre unfair (Ahzumjot Remix)

    04. Danke, schlecht
    05. O.S.T.
    06. Skit
    07. Ancient Roads
    feat. Kaspah Hausa
    08. Vergesst was war
    09. Ich Rap, du Nix
    10. Und ich rede nicht von Wasserski
    11. Skit
    12. Solotrack IV
    13. Solotrack VII
    14. Loooser (Ahzumjot Remix)
    15. Schade, dass du rappst
    16. Skit
    17. Käse & Kräcker (eou Remix)
    feat. KaynBock
    18. eou=mc²
    19. Bleib nicht stehen (Cop Dickie Remix)
    20. Alleine zusammen
    21. Skit
    22. Alles auf Anfang
    23. Fußmatte
    24. Es ist aus (Cop Dickie Remix)

    25. Kindergeburtstag feat. Schlechte Menschen
    26. Was kannst du eigentlich? feat. Rockstah


    Die letzten zehn Jahre des immer noch recht jungen 21. Jahrhunderts waren an spannenden Themen und Ereignissen nicht arm. Angefangen bei den Terroranschlägen des 11. Septembers über die digitale Revolution des "Web 2.0" bis hin zum wirtschaftlichen Aufstieg Asiens im Rahmen einer zunehmend globalisierten Welt gibt es unzählige Geschichten zu erzählen und vielfältige Zeitströmungen zu rekapitulieren. Was die Historiker dabei gänzlich übergehen werden, ist die nun über eine Dekade währende Existenz von eou (bestehend aus Crusoe und Snew), die der Welt in dieser Zeit immerhin die Tapes "eoulution" (2007) und "eoulution Vol. 2" (2008) sowie das Debüt "Alles auf Anfang" (2008) schenkten. Während sich die meisten weltgeschichtlichen Ereignisse der Dekade fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, folgern eou auf ihrer Webseite rückblickend: "10 Jahre und uns kennt keine Sau!" Das ließe sich ändern, aber arm ist im Grunde ja sexy und unbekannt sein ohnehin stylisher als Mainstream-Fassade.
    Dies alles ist komprimiert auf den ersten Track "Geheimtipp" gepackt, eine sarkastisch-humorvolle Bestandsaufnahme des eigenen Bekanntheitsgrades:


    "Denn ich will, dass mich keiner mehr kennt/
    Und laut Verkaufszahlen bin ich da nicht weit von entfernt/
    Deshalb ist man ärmer, je fresher man ist/
    Also, kauft unser Album und tut so, als hättet ihr's nicht – okay?/
    "
    ("Geheimtipp")


    Wo der Name die Verkaufszahlen nicht anheizt, setzen eou auf Ausstattung – und so umfasst das Best-of-Mixtape ("Greatest Hits" wäre wohl eine überdimensionierte Bezeichnung) fünfzehn Songs der Jahre 2006 - 2010, sechs neue Tracks und diverse Remixe sowie eine sarkastische Skit-Retrospektive des ersten Tapes von 2002. Davon hat es dann auch zu Recht kein Song auf "WIRSIND10" geschafft! Und so ist es im Grunde mehr ein Rückblick auf die Jahre 2006 bis 2010 denn eine vollwertige Werkschau einer kompletten Schaffensdekade. Das enthaltene Material wiederum kann sich durchaus sehen lassen. Vieles auf "WIRSIND10" entspringt einer spielerischen Grundhaltung, die sich gerne an Battleklischees abarbeitet ("Dich zu battlen wäre unfair") und mit viel Wortwitz das alte "Ich-gut-Du-nix"-Schema auf die Schippe nimmt ("Schade, dass du rappst", "Ich Rap, du Nix"). Feiertauglicher und ebenfalls sehr frisch sind die inhaltlich sonst eher bescheidenen Featuretracks "Kindergeburtstag" mit einem mittelmäßigen Feature von Schlechte Menschen und "Was kannst du eigentlich" mit einem erwähnenswerten Feature von Rockstah. Es ist insbesondere der Session-Charakter, das Fehlen jeder konstruierten Künstlichkeit, der diese Tracks auszeichnet. Schlicht, aber konsequent – so könnte man es auf einen Punkt bringen.


    Es gibt aber auch nachdenkliche Songs auf diesem Tape. In "O.S.T." wird mittels Filmvokabular auf sprachgewandte Weise die Parallelität der eigenen Lebensgestaltung im Rahmen eines entscheidungsfreien Filmskripts illustriert, bereichert mit der Erkenntnis, dass nichts das eigene Handeln ersetzt. "Fußmatte" ist eine nachdenkliche Rückschau auf den Lauf der Zeit, die Thematik des Abschieds und die Verbindlichkeit von Erinnerung und Entfremdung für das eigene Leben. Beide Themen sind auch auf dem fein produzierten "Ancient Roads" mit Kaspah Hausa verarbeitet. Ein Track, der jenseits von Besserwisserei und Understatement Position bezieht und Erkenntnisse in Alltagsworten einfängt.


    "Denn jeder Tag ist ein Stück, klar, dass nicht jedes passt/
    Doch jedes hat irgendeinen Platz in deinem Lebenslauf/
    Sie machen dein Wesen aus und dich zum Mensch, der du bist/
    An deinen Fehlern gabelt sich dein Weg, rechts oder links?/
    "
    ("Ancient Roads")


    Abgerundet wird die ernste Lichtseite des Tapes mit dem großartigen Cop Dickie-Remix von "Bleib nicht stehen" und dem mitunter gelungensten Song auf "WIRSIND10" mit dem aussagekräftigenTitel "Alleine zusammen". Dabei handelt es sich nicht um die Verarbeitung einer Fernbeziehung, sondern um eine Introspektive der eigenen kreativen Produktivität zwischen Selbstzweifel, Ambition und dem immer wiederkehrenden Anspruch an das eigene Selbst. Sich mitzuteilen, Persönlichkeit in Texten zu vermitteln und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, sind nur einige Randthemen des inhaltlich starken Songs.


    "Du versuchst, cool zu sein, auch wenn es häufig nicht der Fall ist/
    Denn auch wenn du manchmal gar nichts sagst, bedeutet es dir alles/
    Denn das zu tun, ist alles, was du willst/
    Und solange du alles gibst, steckt darin alles, was du bist/
    "
    ("Alleine zusammen")


    Auch wenn "WIRSIND10" als Gesamtpaket überzeugen kann, so gibt es im Detail doch noch Potential für Veränderungs- und Verbesserungsbedarf als Zwischenfazit aus zehn Jahren Musik. Die Verwendung guter Samples (beispielsweise auf "Ancient Roads") täuscht nicht darüber hinweg, dass die Hooks – sofern vorhanden – auf beinahe allen Songs musikalisch und kreativ defizitär sind. Gerade hier fehlt es an Ausdruckskraft, konsequenter Einbettung und bereichernden Features. Gleichermaßen gibt es bei einer so weitläufigen Tracklist auch bei den Produktionen Licht (insbesondere Cop Dickie) und Schatten – "Und ich rede nicht von Wasserski", "eou=mc²" und "Looser" sind drei Beispiele für Produktionen mit tendenziösem Nervfaktor. Ohnehin sind die beiden Ahzumjot-Remixe gerade angesichts der Konkurrenz sehr verzichtbar geworden, was teilweise auch für den eou-Remix von "Käse & Kräcker" gilt. Das mag zu einem Teil Geschmacksache sein, doch die melodischeren Stücke auf "WIRSIND10" wie "Solotrack VII" sind in der Gesamtschau effektvoller. Mit einem vielfältigeren Spektrum an musikalischeren Einflüssen hätte man jedenfalls ein gutes Stück an Unterhaltsamkeit und Abwechslung hinzugewonnen. Nichtsdestoweniger zeigt "WIRSIND10" einen Act, der sich selbst gefunden hat; und es darf durchaus mit Spannung erwartet werden, ob das kommende "eoulution Volume 3" nochmals eine Steigerung mitbringt. Zu wünschen wäre es – als Start in eine neue Schaffensdekade in einem sicherlich ebenso spannenden zweiten Jahrzehnt des dann nicht mehr ganz so jungen 21. Jahrhunderts.



    (Philipp_)

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    01. Intro
    02. Wilson X
    03. Daywalker
    04. Keine Träne
    05. Rap hasst uns
    feat. Nazar
    06. Missgunst
    07. Game ist ein Hund
    08. Ruhe vor dem Sturm 2007
    09. 2008
    10. Beeef Beeef Beeef
    11. Escobar
    12. Punchingball
    13. Deracinée
    14. Automobile
    15. Gameboy
    16. Wien 15
    17. Nicht mit mir
    18. Tag der Abrechnung
    19. Faux croire
    20. Testament nach dem Puff


    Es gibt zwei Gründe, weshalb Künstler unveröffentlichtes Material früherer Aufnahmen nachträglich herausbringen. Zum einen, weil abseits des kommerziellen Rentabilitätszwangs Songs mit besonderer künstlerischer Freiheit entstanden, die qualitativ ein Release rechtfertigen. Zum anderen als Selbstzweck, um die Fangemeinde zu beschenken, oder eine kreative Phase abzuschließen. Ersteres – von postumen Großtaten wie einem Teil der "American Recordings" von Johnny Cash abgesehen – hat eine musikalische Motivation, Letzteres eine stärker persönlich und sozial gewichtete. Es ist auch der primäre Antrieb hinter Raf Camoras Veröffentlichung von "Inédit 2003 - 2010", der letzten unter dem Beinamen "Camora" und dem Abschluss der Schaffensperiode der vergangenen acht Jahre. Formal ist es weniger eine Compilation von
    unveröffentlichten Songs, als ein Zusammenschnitt von 400 Bars in mehr oder weniger festen Strukturen, von bloßen 16ern bis hin zu kompletten Tracks. "Form follows function" heißt das bekannte Prinzip, was gerade den Reiz solchen Materials ausmachen kann.


    Ein Mixtape in dieser Form kann nicht mit den Kategorien eines Albums gemessen werden und so überrascht es kaum, dass "Inédit 2003 - 2010" ein inhaltlich wenig kohärentes Gemisch aus verschiedenen Richtungen und Einflüssen ist, ohne dabei die druckvolle Intensität eines "Therapie nach dem Album" oder eine besondere inhaltliche Vielseitigkeit zu erreichen. Die Szene und deren Schattenseiten wird als ein Hauptthema an vielen Stellen verarbeitet und insbesondere auf "Game ist ein Hund", "Beeef Beeef Beeef" und "Rap hasst uns" aufgegriffen. Der Tenor ist negativ, die postulierte moralische Dekadenz und Verkommenheit des kompletten Genres beinahe redundant. Am überzeugendsten ist die thematische Verarbeitung in "Rap hasst uns" mit "Artkore"-Featurepartner Nazar:


    "Gibt's kein Geld, hör' ich auf, ich werd' nie wieder ans Mic laufen/
    Props, okay, doch damit kann ich mir nicht mal ein Eis kaufen/
    Zwischen tausend Fans am Splash!, ewig volle Hallen/
    Fühl' ich mich so ungefähr wie in 'nem Käfig voller Narren/
    "
    (Raf Camora auf "Rap hasst uns")


    Innerhalb der vielen handwerklich und technisch versiert gemachten, aber überraschungsfreien Kurzaufnahmen wie "Wilson X", "Nicht mit mir" oder "Wien 15" fallen nur wenige Tracks durch besondere Machart auf. Neben dem zu kurzen, aber stimmungsvollen "Daywalker" ragt insbesondere "Tag der Abrechnung" heraus, das auf einen großartigen Raf-Beat immerhin subtile Nachdenklichkeit in den roughen Grundton integriert:


    "Wann kommt der Tag, an dem gezahlt wird/
    An dem wir alle seh'n, wie es brennt/
    Ich hoffe, Gott lässt uns alle geh'n/
    Jede Tat zählt, wenn dieser eine Tag kommt/
    Zahlst Du für jede Sünde mal zehn/
    "
    (Raf Camora auf "Tag der Abrechnung")


    Der vielleicht beste, weil einzig kreativ-mutige Song auf "Inédit" greift genau dieses Thema auf und kombiniert es mit eindrücklichen Bildern: "Testament nach dem Puff" ist ein surreales, von The Royals konsequent endzeitlich produziertes Stück überdrehter Metaphysik, das auch das bekannte "Rabenmotiv" wieder aufgreift, und zurecht als Single ausgekoppelt wurde. Die Video-Reminiszenz an die Nine Inch Nails ist schon rein atmosphärisch mehr als gerechtfertigt:


    "Mein Testament, achtzigtausend Worte Luft/
    Mein Leben lang hab' ich mich nie auf meinen Lorbeer'n ausgeruht/
    Diese Welt ist ein Traum, du bist der Architekt/
    Verbreitest du das Unheil, dann verletzt du bald dich selbst/
    Bist du glücklich, frisst der Satan deinen Kopf mit Mayo/
    Teil' dein Glück mit niemandem, denn nur Gott ist neidlos/
    "
    (Raf Camora auf "Testament nach dem Puff")


    Die anderen vollwertigen Songs, namentlich "Automobile", "Gameboy" und "Ruhe vor dem Sturm" bringen dagegen nicht mehr, außer guter Unterhaltung in der gewohnten Schiene. Spannender und vielleicht auch zukunftsweisender erscheinen die unter dem Reggae-Label Irievibrations aufgenommenen Songs "Deracinée" und "Faux croire", in denen Raf Camora seine im Rapgenre in dieser Form seltenen gesanglichen Qualitäten unter Beweis stellen kann. Gerade der Sänger und vielseitige Produzent Raf Camora kommt auf "Inédit 2003 - 2010" zu kurz. Stattdessen dominiert beinahe die gesamte Albumlänge über der routinierte Rapstil, der von den großen "Nächster Stopp Zukunft" und "Therapie nach dem Album" in besserer Form bereits bekannt ist. Gleiches gilt für die Beats, an deren elektronischer Bauart sich über die Zeit wenig geändert hat. Neben Raf Camora selbst, der den Großteil der Songs produziert hat, liefern unter anderem KD Supier, Gee Futuristic und Phrequincy Bewährtes ab. Nervende Shouts mit mangelhafter Informationsqualität gibt es als Dreingabe ebenfalls.


    Am Ende ist "Inédit 2003 - 2010" ein wenig inspiriertes Sammelsurium von einzelnen Versen und wenigen Songs geworden, das nicht mehr sein will und kann, als eine abschließende Zugabe an die harte Fangemeinde. Was auf den regulären Releases keinen Platz fand, tat dies, dieser Zusammenstellung nach zu urteilen, auch zurecht. In diesem Sinne ist "Inédit 2003 - 2010" ein komplementierendes, künstlerisch leidlich relevantes Beiwerk, das wenig von dem Potenzial aufzeigt, das dem Künstler und Produzenten Raf Camora tatsächlich innewohnt.



    (Philipp_)

    [REDBEW]548 [/REDBEW]

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