Rap ist seit über 40 Jahren Teil der Musikgeschichte. Und obgleich diese Zahl im Vergleich zu anderen Musikstilen gering scheint, war die Entwicklung in hohem Maße dynamisch und einflussreich. Wie kaum eine andere Musikrichtung hat das Rap-Genre politische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen reflektiert und künstlerisch verarbeitet. Ein Verständnis der Vergangenheit ermöglicht daher in besonderem Maße eine differenzierte und facettenreiche Wahrnehmung der heutigen Szene. Im Rahmen dieser Kolumne versuchen wir eine kritische Würdigung herausragender Alben der Rap-Geschichte. Basierend auf einer subjektiven Auswahl, unter Berücksichtigung der Fachliteratur, präsentieren wir euch die unserer Meinung nach prägenden Alben deutschsprachiger Rapmusik. Die Auswahl umfasst Werke, deren Relevanz auf künstlerischer Qualität und/oder Innovation beruht, welche aber auch kommerziell wahrgenommen wurden. Gleichzeitig wurde auf eine Balance der verschiedenen Stilrichtungen geachtet, um einen möglichst ausgewogenen Blick auf die Entwicklung zu ermöglichen. Von jedem Künstler, den wir berücksichtigt haben, wurde jenes Werk ausgewählt, welches unserer Einschätzung nach zu einem Meilenstein geworden ist. Eines wird bei diesem knapp zwanzigjährigen Streifzug durch die Geschichte deutlich: Rap in Deutschland hat eine lehrreiche, kontroverse und sehr spannende Vergangenheit.
Various Artists – Alte Schule (1993)
01. Just writin' my Name
02. Hardcore Gladiator – Toni L & DJ Mike MD
03. Kreativität – TecRoc & Grodio
04. Kapitel 1 – Torch
05. Toy Terminator – Scopemann
06. Back to the Old School – DJ Stylewarz
07. Die alte Schule – Linguist
08. Eski Okul – Boulevard Bou
09. Die neue Reimgeneration – Rene
10. Breakers Revenge 93 – Zeb-Roc-Ski & Stieber Twins
Bonus-Track (Vinyl-Erstauflage 1993):
11. Freestyle Session (Live-Mitschnitt Insel Open Air Jam vom 12. September 1992) – Cora, Torch, Rene, TecRoc & Boulevard Bou
Als die Fantastischen Vier mit der Single "Die da" und dem dazugehörigen Album "4 gewinnt" im Jahre 1992 die Charts stürmten, wurden viele Musikhörer in Deutschland erstmals auf deutschsprachigen Rap aufmerksam. Innerhalb kurzer Zeit gelangte eine Stilrichtung in den Fokus des Musikmainstreams, der bisher ein Nischendasein im Untergrund vorbehalten war. Die Kontroverse in dieser Entwicklung bestand darin, dass diese Szene in ihrem Selbstverständnis nichts mit jenen Fantastischen Vier verband, welche von den Medien zu Repräsentanten deutschsprachiger Sprechgesangsmusik überhaupt erhoben worden waren. Ein kurzer Rückblick: Anfang der 1980er-Jahre erlebte Breakdance (damals B-Boying genannt) durch den Film "Flashdance" (1983) eine weltweite mediale Aufmerksamkeit. Drei weitere Produktionen machten die HipHop-Kultur auch in Deutschland bekannt: "Style Wars" (1983), "Wild Style" (1983) und "Beat Street" (1984). Die Breakdance-Welle und das öffentliche Interesse an HipHop ließen schnell wieder nach, aber es entstanden landesweit lokale HipHop-Szenen, beispielsweise an Standorten der amerikanischen Armee. In Jugendzentren oder privaten Einrichtungen traf sich die Untergrund-Szene zu Jams (auch: Jam-Sessions), auf welchen sich Künstler aus den Bereichen Rap, DJing, Breakdance und Graffiti künstlerisch präsentierten und konkurrierten. Die Erwartung an den Einzelnen war, dass er HipHop "lebt" im Sinne eines Lebensstils und einer Weltanschauung. Die aktive Praxis und Partizipation in den verschiedenen Disziplinen der Kultur war essenziell und "reale" Anhänger waren in mindestens einem der Stile aktiv, im Normalfall sogar in mehreren. Sozialer Status und Respekt wurde erworben über einen unverwechselbar eigenen Style, Skills und die Performance der eigenen Fähigkeiten gegenüber der Community. Die Möglichkeiten dazu waren begrenzt und viele HipHop-Aktivisten reisten durch ganz Deutschland, um Jams zu besuchen. Über diese Jams vernetzte sich diese "Tramperticket-Generation" und wuchs kontinuierlich. Man spricht im Rückblick von den Künstlern, die deutschen HipHop in den 80er-Jahren auf diese Weise leben und verbreiten, von der "Alten Schule".
Doch wie stand es um Rap selbst als eines der vier HipHop-Elemente? Gerappt wurde in der Regel auf Englisch, oft nach Vorbild der US-Rapper. Veröffentlichungen geschahen meist im kleinen Maßstab durch Eigenproduktion oder Nischenlabels. Sozialisiert wurden die meisten Künstler der "Alten Schule" durch eine Vielzahl von musikalischen Einflüssen, darunter amerikanischer Rap der 80er-Jahre und Funk. Die Szene war in einer Pionierrolle und wer nicht Vorbilder aus den USA kopieren wollte, musste selbst eine künstlerische Vorreiterrolle einnehmen. Dieser Aufgabe stellte sich die junge Szene mit Erfolg. Sie wuchs kontinuierlich und erfuhr von Medien, Hörerschaft und Industrie eine höhere Aufmerksamkeit. Das vorher Punk-lastige Hamburger Kultlabel Buback veröffentlichte 1992 den Sampler "Kill The Nation With A Groove" und versammelte dort Künstler wie No Remorze, Cora E, Absolute Beginner und Advanced Chemistry. Letztere gründeten im gleichen Jahr zusammen mit Akim Walta (Zeb.Roc.Ski/Zebster) das Label MZEE Records, eines der ersten reinen HipHop-Labels in Deutschland. Dort erschien 1993 ein Meilenstein, der den Stil der Alten Schule in besonderer Weise abbilden sollte, der Sampler "Alte Schule". Auf besondere Weise wurde damit das Selbstverständnis dieser frühen Szene dokumentiert und eine eindrückliche Sammlung von Reminiszenzen an eine alte Zeit zusammengefasst:
"Ich seh' die heutige Szene und denke daran, wie es damals war/
Schließe die Augen und die Bilder erscheinen klar/
Anfang '80, als alles begann/
Brachten viele meiner Brüder die Breakdancebewegung voran/
Den Anfang der heutigen Kultur/
Stolz bewege ich mich nun heute auf ihrer Spur/"
(Boulevard Bou auf "Eski Okul")
Für heutige Hörer unter Umständen ungewohnt, aber aus damaliger Sicht konsequent und notwendig, ist die Repräsentation aller vier Bestandteile der HipHop-Kultur auf dem Sampler. Neben Rap gibt es ein DJ-Instrumental ("Back to the Old School"), eine Hommage an die Graffiti-Künstler ("Just writin' my Name") und einen Breakdance-Titel ("Breakers Revenge 93"). Auf den beiden letztgenannten Tracks debütiert ein Duo aus Heidelberg als Produzenten, die Stieber Twins. Auch die sieben textbasierten Songs des Samplers folgen einem roten Faden: HipHop. Ob Toni L und Scopemann mit ihrer anti-kommerziellen Attitüde oder Boulevard Bou und Linguist mit ihren stärker die historische Entwicklung reflektierenden Songs: Alle Beiträge behandeln zahlreiche Aspekte rund um die deutsche HipHop-Kultur, mit einem breiten Spektrum an Themen von kommerziellem Ausverkauf über die geschichtliche Veränderung der Szene bis hin zur Rolle von Zuwanderern für die Entwicklung der HipHop-Community. Alle Beiträge rücken direkt oder indirekt die kulturellen Veränderungen der Szene seit den 80er-Jahren in den Mittelpunkt ihrer Songs und betonen die Notwendigkeit von Werten, Authentizität und Einheit der HipHop-Kultur mit ihren Bestandteilen Rap, DJing, Graffiti und Breakdance.
"Kapitel 1" von Torch ist wohl der repräsentative und zentrale Song auf "Alte Schule". Auf Basis eines Samples der 80er-Jahre-Synthie-Pop-Ballade "I don't believe in you" der genialen Tears for Fears liefert der Advanced Chemistry-Mitgründer eine so persönliche wie politische Bestandsaufnahme deutscher HipHop-Kultur. "Wir fahren auf Jams, schauen uns alles an, wollen jeden kennenlernen und machen uns ein Bild von dem, was wirklich passiert. Nicht nur Pop-mäßig durch Platten und Medien", beschrieb Torch 1993 in der Zeitschrift "Spex" im Interview seine Einstellung zu HipHop als eine Kultur, in der jedes Mitglied Künstler ist. Eine Szene ohne den Spalt zwischen Popstar und ausschließlich auf passiven Hörgenuss ausgerichtetes Massenpublikum. Nicht ohne Grund samplet der Song Afrika Baby Bams berühmtes "You see they call me a star, but that's not what I am" an vielen zentralen Stellen. "Kapitel 1" hat auch nach mittlerweile 20 Jahren nichts von seiner Ausdruckskraft eingebüßt:
"HipHop war meine erste Freundin, sie machte mich zum Mann/
Gab mir meinen Stolz und Wissen, das ich lehren kann/
Wie am ersten Tag bin ich noch verliebt/
Weil es für mich nichts anderes gibt, was mir mehr Kraft gibt/
Perfekt wie ein Kreis, dreihundertsechzig Grad/
Umschließt mein Leben und begründet jede Tat/
Wenn ich sterbe, stirbt zwar auch ein Teil dieser Kultur, bloß/
Wenn HipHop stirbt, werden viele obdachlos/"
(Torch auf "Kapitel 1")
Am Ende des Samplers ruft ein junger (MC) Rene dann noch eine auf der alten Schule aufbauende "Neue Reimgeneration" aus, welche die Tradition fortsetzen sollte. Es sollte anders kommen, wie die nächsten Ausgaben der Kolumne zeigen werden. Die Mitglieder des "Alte Schule"-Samplers blieben zum großen Teil bis heute musikalisch aktiv. MC Rene ist bis heute als Rapper und Schriftsteller aktiv, DJ Mike MD ist Produzent, DJ und Audio Engineer, Boulevard Bou legt als DJ in Heidelberger Clubs auf, DJ Stylewarz ist ein renommierter Produzent und arbeitete unter anderem mit Ferris MC, Deine Lieblingsrapper und Aphroe. TecRoc wechselte in das Elektro-Genre, Scopemann brachte noch ein paar Rap-Underground-Veröffentlichungen heraus. Über Advanced Chemistry (Torch, Toni L, Linguist) und die Stieber Twins wird im Rahmen dieser Kolumne noch ausführlich zu sprechen sein. Die Ideale der Alten Schule mit ihrer Betonung des künstlerischen Schaffens, des Community-Gedankens und Ablehnung kommerziellen Ausverkaufs haben ihren bleibenden Eindruck in der Entwicklung deutschsprachiger Rapmusik behalten. Doch selbst abstrahiert vom musikhistorischen Hintergrund bleibt "Alte Schule", vereinfachend ausgedrückt, vor allem eines: ehrlicher, gut produzierter Rap mit Skills und zeitloser Botschaft.
Der Streit zwischen Advanced Chemistry und den Fantastischen Vier sowie die damit verbundene Kommerzialisierungsdebatte belebte die Szene zu Beginn der 90er-Jahre und führte zu kontroversen musikalischen und verbalen Auseinandersetzungen. Deutscher Rap begann, sich in verschiedene Richtungen auszudifferenzieren und eine Reihe neuer Künstler und Gruppierungen erregte Aufsehen. Darunter war 1994 ein Debüt, das einen gänzlich anderen künstlerischen Weg beschritt, abseits der Debatten um Alte oder Neue Schule: "Direkt aus Rödelheim" von Moses Pelham und Thomas Hofmann. Mehr dazu im dritten Teil der "Meilensteine"-Kolumne.
(Philipp)
Meilensteine-Kolumne Teil 1: Die Fantastischen Vier – 4 gewinnt (1992)
Meilensteine-Kolumne: Kommentare/Diskussionen/Ideen zur Kolumne