Seit wenigen Wochen besteht die Hoffnung, dass die Omikron-Variante die Pandemie tatsächlich beenden könnte: durch eine hohe Ansteckungsrate bei vergleichsweise milden Verläufen. Durch eine breite Immunität in der Bevölkerung nach mehreren Begegnungen mit dem Virus, über Impfungen oder Infektionen. Durch den Übergang in eine endemische Lage.

Allerdings steht bisher noch nicht fest, wie gut der Immunschutz nach einer überstandenen Infektion mit Omikron auch vor der Ansteckung mit anderen Varianten schützt. Und es ungewiss, ob Omikron die letzte Variante ist, die die Welt beschäftigen wird.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte dazu in einem Interview mit der »Bild am Sonntag«: »Es ist gut möglich, dass wir es im Herbst mit einem mutierten Delta-Typ zu tun bekommen. Wer jetzt als Ungeimpfter an Omikron erkrankt, hätte im Herbst gegen eine neue Delta-Variante wahrscheinlich einen Infektionsschutz von deutlich unter 50 Prozent.« Es führe, sagte der Mediziner, kein Weg an der Impfung vorbei.

In einem Tweet erklärte Lauterbach weiter: Wer sich ungeimpft mit Omikron infiziere, könne sich im Herbst erneut leichter mit anderen Varianten anstecken. »Gegen serotypisch entfernte Fitness Varianten wenig Schutz.«

Was bedeutet das?

Ganz grundsätzlich unterscheidet man Krankheitserreger wie Bakterien und Viren innerhalb einer Art abhängig von ihrer Oberflächenstruktur. Die Oberflächenstruktur ist verantwortlich für die Antikörper, die die Erreger hervorrufen. Man spricht dabei von antigenen Eigenschaften. Viren und Bakterien, die sich in ihren antigenen Eigenschaften unterscheiden, werden als verschiedene Serotypen bezeichnet, sozusagen als Untergruppen eines Erregers. Die Immunität, die nach einer Begegnung mit einem bestimmten Serotypen besteht, schützt nicht unbedingt auch vor einem anderen Serotyp – obwohl es sich um Erreger derselben Art handelt.

Seit Omikron entdeckt worden ist, staunen Fachleute über die außergewöhnlich hohe Zahl an Mutationen, die die Variante aufweist – und die die Oberflächenstruktur verändern. Damit verändern die Mutationen auch die Antwort des Immunsystems auf das Virus: Omikron hat die Fähigkeit, den Immunschutz zu einem Teil zu umgehen. Womöglich fällt diese Veränderung so stark aus, dass Omikron wie eine neue Unterform in der Gruppe der Sars-CoV-2-Viren betrachtet werden muss – als neuer Serotyp.

Dazu verwies der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité bereits Anfang Januar auf eine Preprint-Studie.

In der Studie, die am 3. Januar veröffentlicht und noch nicht von unabhängigen Fachleuten überprüft wurde, untersuchten die Autorinnen und Autoren, wie Antikörper, die Personen nach einer Infektion mit einer bestimmten Virusvariante gebildet haben, auf andere Virusvarianten – darunter auch Omikron – reagierten. Die Fähigkeit der Antikörper, die Erreger zu neutralisieren, wurde in einem Cluster verortet. Die Grafik oben zeigt, dass die Reaktionen bei den bisher bekannten Varianten ähnlich ausfallen. Die Varianten Alpha, Beta, Delta und zwei weitere liegen recht nah beieinander. Nur Omikron liegt weit davon entfernt. »Omikron unterscheidet sich wesentlich«, formulierte es der Mikrobiologe Colin Russel, der an der Untersuchung beteiligt war.

Drosten schrieb, diese Veröffentlichung sei ein »sehr wichtiger Hinweis darauf, dass Omikron einen neuen Serotypen darstellen (gründen) könnte«. Ähnlich äußerte er sich auch auf der Bundespressekonferenz am vergangenen Freitag: Er gehe derzeit davon aus, dass es sich bei Omikron um einen neuen Typ handelt. Vermutlich werde deshalb eine weitere, angepasste Impfung nötig sein, um den Immunschutz vollständig aufrechtzuerhalten.

Der Bundesgesundheitsminister teilt diese Einschätzung. Das bestätigte Karl Lauterbach dem SPIEGEL in einem Telefongespräch: »Man muss Omikron als neuen Serotypen bezeichnen«, sagte er. Das Spike-Protein habe sich so stark verändert, mit der Folge einer erhöhten Ansteckung und einer verminderten Schwere der Erkrankung.

Schützt die Infektion vor neuen Ansteckungen genauso wie die Impfung?

Die Frage der Einordnung ist aber nicht das Thema, das die politische Debatte im Moment beherrscht. Viel mehr ist im Kontext der Diskussion um eine Impfpflicht die Frage nach der Wirksamkeit des Immunschutzes durch die Omikron-Infektion relevant. Erübrigt sich durch die Ansteckung mit Omikron die Notwendigkeit für bislang Ungeimpfte, sich impfen zu lassen?

Tatsächlich könnte die Immunantwort eines Ungeimpften nach einer Omikron-Infektion so spezifisch auf diese Variante zugeschnitten sein, dass sie vor der Ansteckung mit anderen Virusvarianten weniger gut schützt – jedenfalls im Vergleich mit dem vollen Impfschutz nach drei Dosen.

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Das Virus Sars-CoV-2 hat sich in kurzer Zeit mehrfach verändert. Wie lange wird es dauern, bis sich die nächste Variante durchsetzt?

Foto: Andriy Onufriyenko / Getty Images

Auch dazu gibt es erste Studien. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um den Virologen Alex Sigal untersuchte in Südafrika, ob die neutralisierende Immunität, die durch Omikron hervorgerufen wird, auch die neutralisierende Immunität gegen die Delta-Variante verstärkt. In die – sehr kleine – Versuchsgruppe wurden geimpfte und ungeimpfte Probandinnen und Probanden aufgenommen. Das Ergebnis: Eine Omikron-Infektion verstärkte die neutralisierenden Antikörper, die Immunantwort wurde verbessert, und das zu einem gewissen Grad auch gegen andere Varianten. Mit einer Unterscheidung: Geimpfte entwickelten nach einer Omikron-Durchbruchinfektion eine sehr gute Immunität, sowohl gegen die Omikron- als auch gegen die Delta-Variante. Ungeimpfte hingegen wiesen nach einer Omikron-Infektion eine schlechtere Immunität gegen Delta auf.

Trotz der kleinen Teilnehmerzahl sei die Studie wichtig, sagte Christine Dahlke dem SPIEGEL. Dahlke erforscht am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf die Immunantworten zu Covid-19-Impfstoffen. »Die Daten zeigen einen Trend. Und es macht Hoffnung, dass bei Geimpften nach einer Omikron-Infektion nicht nur die Antikörper gegen Omikron steigen, sondern sich auch Antikörper gegen Delta bilden.« Das könne im Herbst zum Vorteil werden – zu einem Vorteil, den Ungeimpfte nicht haben. Allerdings, schränkt Dahlke ein, sei es für gesicherte Aussagen zu früh: »Antikörper geben uns einen Hinweis, wie es laufen kann.« Doch andere Faktoren wie die T-Zellen könnten ebenfalls einen wichtigen Einfluss haben. Sie plädiere zum jetzigen Zeitpunkt dafür, weitere Studien abzuwarten.

Drohen neue Varianten?

Doch was ist von Karl Lauterbachs Warnung zu halten, dass Omikron-Infizierte ohne einen zusätzlichen Impfschutz etwaigen neuen Varianten, die im Herbst auftreten könnten, nur mit geringem Immunschutz entgegentreten? Woher nimmt er die Angabe, dass der Schutz weniger als 50 Prozent betragen könnte?

Dazu sagte der Minister dem SPIEGEL: Erstens deute darauf etwa die Studie aus Südafrika hin. Und zweitens lasse sich diese Zahl aus anderen Beobachtungen ableiten: »Wenn man sieht, wie wenig Delta vor Omikron schützt, muss man annehmen, dass das auch umgekehrt ungefähr gilt. Der Schutz geht in beide Richtungen.«

Für seine Mahnung erntete Lauterbach Zustimmung, aber nicht nur. Kritisch äußerte sich etwa der Virologe Klaus Stöhr, der aktuell keiner wissenschaftlichen Einrichtung angehört und als wissenschaftlicher Berater tätig ist. Er warf dem Gesundheitsminister auf Twitter ein »Irrlichtern« vor und präzisierte seine Sicht später so: Seiner Ansicht nach schade es dem Ziel der Impfakzeptanz, dass Karl Lauterbach den Aufruf zur Impfung mit »schwer haltbaren und realitätsfernen Auslassungen zur Virusevolution und -variantenbildung« begründe.

Natürlich kann niemand mit Sicherheit vorhersagen, ob und wann neue Varianten auftauchen. Christine Dahlke vom UKE fasst es so zusammen: »Das Virus hat uns schon so oft überrascht.«

Seit Ausbruch der Pandemie vor rund zwei Jahren stufte die Weltgesundheitsorganisation WHO immerhin fünf Varianten als besorgniserregend ein, die sich im Übrigen nicht aufeinander aufbauend entwickelt haben. Omikron ist unabhängig von der Delta-Variante entstanden, das ist auf der Seite des Robert Koch-Instituts nachzulesen.

Und man kann nicht ausschließen, dass sich just im Moment irgendwo auf der Welt eine weitere Variante entwickelt. Die immer noch sehr hohe Zahl an Ungeimpften – mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung haben noch keine einzige Impfdosis erhalten – leistet dazu ihren Beitrag. Wie hoch der Anteil der Genesenen ist, die immerhin einen gewissen Schutz haben, ist unklar.

»Die Frage ist für mich eher: Wie wahrscheinlich ist es, dass so etwas nicht eintritt?«, sagte Lauterbach dazu. »Mehrere Milliarden Menschen auf der Erde sind nicht durch die Impfung immunisiert. Und viele sind immunsupprimiert, haben also ein eingeschränktes Immunsystem. Das gilt zum Beispiel für HIV-Erkrankte, die nicht optimal therapiert werden, oder für Krebspatientinnen und -patienten.« Er rechne deshalb damit, dass im weiteren Verlauf der Pandemie andere Serotypen auftreten werden.

»Ich kenne keinen renommierten Virologen, der behauptet, dass Omikron die letzte Variante sei.«

Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister

Was nicht bedeuten muss, dass zwingend ganz neue Varianten auftreten. Ebenso ist denkbar, dass eine Delta-ähnliche, weiter mutierte Variante zurückkehrt. Dazu sagte Lauterbach: »Ich halte es für wahrscheinlich, dass eine von Delta abstammende Fitness-Variante auftaucht. Ob sie sich durchsetzt, ist unklar. Und ich halte es für gut möglich, dass eine gefährliche, rekombinierte Variante entsteht: mit der Übertragbarkeit von Omikron und einer Schwere der Verläufe wie bei Delta.«

In eine ähnliche Richtung gingen auch die Äußerungen von Christian Drosten am Freitag bei der Pressekonferenz. Es sei nicht auszuschließen, dass eine Delta-ähnliche Variante auftritt. Wer vorher ausschließlich mit Omikron in Berührung gekommen ist, könnte dann kaum oder zumindest weniger vor einer Infektion und einer Erkrankung geschützt sein – weil sich die Viren so stark unterscheiden. In einem Interview mit dem »Tagesspiegel« erklärte der Virologe auch, dass das Veränderungspotenzial von Sars-CoV-2 nicht unendlich ist. »Das Virus kann nicht das Spike-Protein strukturell so stark verändern, dass es gar nicht mehr wiederzuerkennen ist.« Es gebe einen gewissen, begrenzten Mutationsraum, den das Virus nutzen könne, sagte Drosten.

Doch auch dieser begrenzte Raum kann ausreichen, dass eine weitere Variante das Ende der Pandemie verschiebt. »Ich kenne keinen renommierten Virologen, der behauptet, dass Omikron die letzte Variante sei«, sagte der Gesundheitsminister Lauterbach. »Wir bräuchten sehr großes Glück.«

Was dabei feststeht, trotz aller Unsicherheiten: Mit vollständigem Impfschutz ist man etwas weniger auf Glück angewiesen.