8. Literatur-Challenge: Krieg

Kaum dass er die Flasche des eben erbeuteten Wassers absetzt, lächelt er wieder. Ein Lächeln, welches mir so vertraut und bekannt vorkommt, und doch so unwirklich und fremd. Ich weiß es oft nicht zu deuten, wirkt es doch künstlich und aufgesetzt – in Anbetracht der Umstände. Trotzdem ist dies einer der wenigen Momente, die mir noch die Kraft und die Motivation geben, weiterzukämpfen. Seine weichen Gesichtszüge und diese Art, innerhalb eines Augenblicks alle Laster von sich zu werfen und die Welt in neuem Licht erstrahlen zu lassen, erinnern mich immer wieder an seine Mutter. Manchmal frage ich mich, ob ich es tatsächlich geschafft habe, ein Leben in diese hoffnungslose Welt zu setzen, das sich entfalten und Glück finden kann - oder ob ich einen Psychopathen geschaffen habe.
„Auch ‘nen Schluck?“ fragt er, während ihm Wasser über das Kinn läuft. Er hält mir die noch geöffnete Flasche hin. Nachts hätten wir das fremde Lager vielleicht übersehen, tagsüber war es allerdings ungeschützt und zu schlecht getarnt. Es ist unter einem Felsvorsprung eingerichtet, zu fast allen Seiten offen und bietet lediglich Schutz gegen Regen. An einer Seite des Vorsprungs stehen scheinbar als Sichtschutz ein paar Holzpaletten.* Als ich hoffe, dass er die Lektion dieses Tages nicht vergisst, trauere ich um die Tatsache, dass er sie erst lernen musste. „Nein, danke, ich hab mich wieder heimlich an den Vorräten bedient. Die Flasche darfst Du behalten.“ lüge ich ihn an. Schon seit längerem befürchte ich unseren baldigen Abschied und mit der Zeit fällt es mir auch immer leichter, zu seinen Gunsten zu verzichten.
Ich schaue ihm dabei zu, wie er das noch rauchende MG5 auf brauchbare Zubehörteile untersucht. Er scheint sofort zu erkennen, dass die Picatinny-Schienen der Waffe mit seiner kompatibel sind. Wohl eher doch ein Psycho.

*

Rund 18 Jahre ist es her, dass die Lage auf der Erde eskalierte. Anfangs meinte jeder zu wissen, wer den Krieg begonnen hat und wie er zu beenden sei, doch viele Regierungen erlagen schnell der Ohnmacht, Realität von Propaganda zu unterscheiden. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Technologie mittlerweile so weit fortgeschritten war, sich im Ernstfall selbst zu vernichten. Kommunikation wurde flächendeckend unterdrückt, während gleichzeitig Informationen gefälscht und gestreut wurden. Vom Chaos beflügelt versuchten religiöse Gruppierungen* zu putschen, nur um festzustellen, dass sie noch wesentlich ungeeigneter waren, ein Land zu regieren, welches sich im Krieg befindet. Es war geradezu makaber. Regierungen beobachteten zähnefletschend, wie sich andere Länder von innen* zerstörten, ohne dabei zu merken, selbst Opfer der eigenen Kriegsführung zu werden. Satelliten wurden deaktiviert oder unbrauchbar gemacht, Leitungen wurden gekappt, Masten gefällt und Am Ende blieb nichts – keine Regierung, keine Kommunikation, kein Glaube und keine Hoffnung.
Innerhalb von vier Jahren wurden große Teile der Bevölkerung ausgelöscht. Nahezu täglich versuchten Organisationen aus dem Untergrund durch Falschmeldungen und Hacker-Angriffe Nuklearschläge zu provozieren. Rückblickend glaube ich, dass wir nur deswegen heute noch leben. Es war innerhalb kürzester Zeit unmöglich geworden, Meldungen zu verifizieren. Die wenigen bestätigten Angriffe konnten nicht zugeordnet werden, gleichzeitig bekannten sich diverse Regierungen und Parteien zu denselben Anschlägen. Einen Atomschlag wagte so niemand – gegen wen auch? Je deutlicher die Machtlosigkeit der Regierungen klar wurde, desto schneller trat das Gesetz der Stärkeren in Kraft. Die meisten starben durch die Hand ihrer Mitmenschen, durch Gier, Hass und Missgunst.

*

Im fünften Jahr des Krieges wurde meine Frau schwanger. Fast jeder verlor Familie, Geliebte und Bekannte, während ich ein Kind gewann. Heute ist die Vorstellung, sich mit einem Kind durchzuschlagen, wesentlich entspannter. Wir haben uns an das Leben – oder eher gesagt Überleben – gewöhnt. Heutzutage ist eine der größten Gefahren, von Wegelagerern ausgenommen zu werden, die verzweifelt genug sind, fürs Überleben zu sterben. Wegelagerern wie denen, dessen Wasser nun die Kehle meines Sohnes befeuchtet. Damals lähmte mich der Gedanke, ein Kind beschützen und ernähren zu müssen. Noch immer waren die meisten Orte, die ein sorgenfreies Leben ermöglichen sollten, umkämpft und gefährlich. Zu dieser Zeit waren wir Teil einer autonomen Organisation, die ähnlich einem Nomadenvolk durch das Land zog. Das war lange Zeit sehr vorteilhaft, weil wir keine Heimat hatten, für die andere sich interessieren konnten. Je weniger eine Gruppe besaß, desto weniger Probleme bekam sie – paradoxerweise, da das größte Problem heutzutage der Mangel an fast allem ist. Nun mussten wir zumindest zeitweise einen anderen Weg finden, zu überleben. Selten hielten wir uns länger als drei Tage an einem Ort auf. Rücksicht auf Individuen wurde schon lange keine mehr genommen. Dies bedeutete für uns, umzudenken. Als sich bei ihr langsam ein Bauch abzeichnete, teilten wir der Gruppe unsere Entscheidung mit, nach Möglichkeit eine Bleibe zu finden. Kurze Zeit später ließen sie uns an einem Bauernhof zurück, bei dem wir uns einbringen konnten. Die Ernte hier hätte noch für ein paar zusätzliche Personen gereicht, an Arbeit mangelte es auch nicht, sodass wir recht problemlos aufgenommen wurden. Das Wetter wurde schon wieder milder, als es April wurde schätzten wir sie auf den achten Monat. Seit einigen Wochen haben wir keine weiteren Menschen getroffen, um den Bauernhof herum war es still und niemand von uns hatte eine medizinische Ausbildung. Die Geburt gestaltete sich entsprechend schwierig. Provisorisch hatten wir ein sauberes Bett und eine Wanne für eine Wassergeburt vorbereitet. Die Wehen setzten mitten am Tag ein. Über Stunden hinweg hielten die Schmerzen an, doch wegen einer Einstellungsanomalie, die keiner der Anwesenden feststellen konnte, konnte meine Frau nicht gebähren. Weder Wasserbad, noch alle Versuche, auf meine Frau einzuwirken, halfen. Ihr ging es immer schlechter und sie hatte kaum noch Kräfte, über 24 Stunden lang wurde es nur schlimmer. In meiner Verzweiflung, nach stundenlangem zermürbenden Kampf und dem Ausschöpfen aller Möglichkeiten, lehnte ich mich mit meinem gesamten Gewicht auf den Bauch um der Geburt zu helfen und tatsächlich merkte ich plötzlich, wie das noch Ungeborene sich ruckartig in Bewegung setzte und die Kugel, welche ich schon über einen Tag pausenlos beobachtete, eine gänzlich neue Form annahm. Ich hatte das Gefühl, dass in diesem Moment die gesamte Welt verstummte. Ich konnte kein einziges Geräusch wahrnehmen, für wenige Sekunden war ich wie taub. Dann holten mich die letzten Sekunden, die sich ins Unendliche zu ziehen schienen, schlagartig ein - plötzlich geschah alles gleichzeitig. Mein Sohn schrie. Es entstand eine unheimliche Hektik, jemand schnitt die Nabelschnur durch und trug meinen Sohn weg. Man stellte mich an die Seite, wo ich noch immer wie paralysiert realisieren musste, was überhaupt vor sich ging. Es wurde gebrüllt, doch wieder einmal herrschte bei uns allen nur das Gefühl von Ohnmacht. Ich erblickte meine regungslose Frau und verlor mein Lächeln für immer.

*

Etwa sechs Jahre später verließen wir den Hof. In dieser Zeit überlebten wir drei Angriffe. Beim letzten Überfall starben allerdings fast alle Überlebenden, die seit unserer Ankunft zu uns gestoßen sind. Dieser Angriff bestätigte mir, dass ich und mein Sohn in der Lage sein würden, in der Wildnis zu überleben. Dafür war es vor allem wichtig, dass mein Sohn lernte, sich in brenzligen Situationen adäquat zu verhalten. Es gibt keine Ratgeber, die einem beibringen, ein Kind im Krieg großzuziehen. Was uns die Pädagogik noch vor weniger als einem Jahrzehnt lehren wollte, galt damals schon nicht mehr. Eigenschaften für ein friedliches und gesellschaftliches Leben haben keinen Wert mehr. Schon vom ersten Moment an, nicht zuletzt da mir seit dem Tod meiner Frau Empathie fast schon fremd wurde, versuchte ich meinem Sohn beizubringen, möglichst rational und* emotionslos zu handeln. Fast immer, wenn wir Tiere erlegten, war er zugegen. Mit vier gab er erstmals einem gefangenen Hasen den Gnadenstoß. Er tat es nahezu mechanisch, als hätte das Leben dieses Tieres nicht mehr Wert als eine Nuss, die man knacken muss, um an ihr Fleisch zu kommen. Schon damals war ich gleichzeitig erleichtert, aber auch besorgt. Es fühlte sich an wie ein unverdienter Sieg, wie eine Lektion, die auf Kosten von Menschlichkeit erteilt werden musste. Nach dem letzten Angriff beobachtete er mich wie ein aufmerksamer Schüler dabei, den sterbenden dieselbe Gnade zu erweisen, wie er damals schon so oft Tieren. Vermutlich hätte er das damals schon übernehmen können, doch wollte ich ihm das Töten eines Menschen noch nicht zumuten. Die nächsten Jahre verbrachten wir wieder wie Nomaden. Ich lehrte ihm alles zum Überleben notwendige, nach kürzester Zeit war ich mir sicher, dass er zumindest nicht verhungern würde. Er war ein Naturtalent, was angeln und jagen anging, und schlau genug, sich giftige Nahrungsmittel zu merken. Mit zehn Jahren tötete er zum ersten Mal. Es geschah so beiläufig, dass ich es fast gar nicht mitbekommen hätte. Wochen zuvor schlossen wir uns zwei Wanderern an, mit denen wir uns mittlerweile ganz gut verstanden. Wir stießen zufällig auf einen Unterschlupf, den wir wahrscheinlich weiträumig umgangen hätten, wenn wir ihn nicht erst so spät bemerkt hätten. Oftmals war es besser, keine unnötige Gefahr darzustellen, was bedeutete, auch niemandem zu nahe zu kommen. Kaum hundert Meter entfernt Drang Gebrüll aus dem Dickicht, welches wir gerade durchquerten. Als sie gehört hatten, dass wir uns näherten, schossen sie blind durch das Geäst, woraufhin wir sofort das Feuer erwiderten. Es dauerte keine drei Sekunden, bis die Schüsse verstummten. Im Dickicht fanden sich zwei tote Schützen, sowie ein Verletzter, der kaum bei Bewusstsein war. Scheinbar wollten sie sich nur vor uns schützen und ihren Freund verarzten. Alarmiert, ob die Männer verfolgt wurden, prüften die Wanderer und ich die Umgebung. Als ich zurückkam um zu schauen, ob die Männer etwas Brauchbares dabei hatten, sah ich meinen Sohn über dem Verletzten hocken. Auf die Knie gestemmt schaute er ihn an, ohne mit ihm zu sprechen oder auf ihn zu reagieren. Der Mann röchelte und streckte die Hand nach meinem Sohn aus, doch dieser schaute ihn weiterhin nur interessiert mit klaren Augen an. Dann hielt er ihm die Augen zu und stach ihm durch den Hals, legte seinen Kopf zur Seite und begann, seine Taschen zu durchwühlen. Als er sich umdrehte und mir ein geschmücktes Messer zeigte, lächelte er wieder.

*

Gelegentlich tauscht er Einzelteile seiner Waffe aus, und so lasse ich ihm noch den Spaß, sich das MG5 genauer anzusehen. „Lass uns nicht zu lange hier rumhängen. Wenn irgendwer die Schüsse gehört hat, werden wir nur zur Zielscheibe. Dabei wird es uns sicher nicht besser gehen, als den Helden hier.“ sage ich und deute auf die drei toten Männer unter dem Felsvorsprung. „Du siehst, ein scharfer Verstand ist mehr wert als schwere Bewaffnung.“ Gleichgültig lässt er von den Männern ab, steckt sein Messer in den Hosenbund und räumt alles, was Aufmerksamkeit erregen könnte, beiseite. Den Schützen vom MG lässt er rücksichtlos einen Hang runterrollen, um die anderen Männer kümmert er sich nicht, da sie bereits von außen nicht sichtbar hinten im Versteck liegen. „Klar, weiß ich doch.“ erwidert er. Da ich will, dass er mich ernstnimmt, setze ich nach: „Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln: durch Nachdenken ist der edelste, durch Nachahmen der einfachste, durch Erfahrung…“ – „Der bitterste, jaja“ fällt er mir ins Wort. „Konfuzius, schon klar. Du möchtest, dass ich nachdenke, bevor ich etwas tue. Und, dass ich von dir lerne, damit ich nicht erst durch Fehler lernen muss. Gecheckt!“ Beim letzten Wort formt er eine Art Haken mit dem Finger in der Luft. Dieser Haken war über Jahre etwas wie unser Amen, jede Weisheit, die ich ihm einbläuen will, wird auf diese Form bestätigt. Es ist eines der vielen Rituale und Eigenheiten, die uns über die Jahre untrennbar gemacht haben. So wie Vögel lernen, in Formationen zu fliegen, haben wir unseren eigenen Rhythmus entwickelt, unser perfektes Zusammenspiel. Meistens halte ich meine Tadel und Lektionen für überflüssig, aber jugendlichen Leichtsinn darf man nicht unterschätzen. Als er die Paletten neben dem Lager hochklettert, denke ich über unsere weiteren Schritte nach. Dann fällt der erste Schuss. Das Geräusch ist so laut, dass ich erst nicht zuordnen kann, woher es überhaupt kommt. Im Bruchteil einer Sekunde stehe ich und scanne die Umgebung. Ein zweiter Schuss fällt, und ich realisiere, dass einer der drei Männer noch lebt. Er zielt jetzt höher, scheint sein Ziel aber nicht ganz erfassen zu können. Weitere Schüsse fallen, Ich sehe Schatten springen und vermute, dass mein Sohn aus der Sichtlinie auf den Vorsprung geklettert ist. Den Mann musternd versuche ich mich zu fangen, kann aber keinen Muskel rühren und spüre, wie ich rückwärts gegen die Wand kippe. Im nächsten Moment sehe ich meinen Sohn von oben herabfallen. Das laute Knacken fährt mir nicht weniger ins Mark als die Schussgeräusche, erleichtert stelle ich aber fest, dass mein Sohn offenbar sehr präzise Gnadenstöße versetzen kann, denn das Genick des Mannes sieht nicht mal für einen Toten noch natürlich aus. Mein Sohn dreht sich zu mir um. Als ich nach Jahren der Apathie und Empathielosigkeit die Tränen in seinen Augen erblicke, werden mir schlagartig zwei Dinge klar. Erstens: Mein Sohn hat den Wert der Liebe und der Menschlichkeit gelernt. Zweitens: Ich sterbe. Und dann lächle ich.

Black Lining

Das Absinken des Meeresspiegels während der Otira-Kaltzeit, dem letzten Glazial des Pleistozäns, legte eine Landbrücke zwischen den heute als Australien und Tasmanien bekannten Landmassen frei. Vierzigtausend Jahre nach der Besiedlung Australiens und vor der Geburt Christi erreichte der Mensch die King-Highlands, Takayna und den Derwent River. Zur selben Zeit betrat Homo Sapiens erstmals Europa.

In mindestens vier Wellen zogen Menschen unterschiedlicher Ethnie und Sprache nach Tasmanien, ehe der steigende Meeresspiegel das Land zu einer Insel machte und die tasmanischen Aborigines auf Jahrtausende isolierte. Die auf den King- und Furneaux-Islands gestrandeten Aborigines starben aus.
Die fünfte Besiedlungswelle kündigte sich ab 1642 an – Abel Tasman landete auf Tasmanien, traf aber keinen der Eingeborenen an. Ab 1772 landeten vor allem französische Schiffe an der Insel, der Kontakt zu den Tasmaniern lief friedlich ab. Nicht selten ließen Kapitäne Geschenke am Strand zurück, um den Aborigines für ihre Freundlichkeit zu danken. Ab 1800 begannen britische und amerikanische Robbenfänger, vorübergehende Siedlungen auf den kleinen Inseln vor der Küste Tasmaniens zu errichten und mit den Tasmaniern Handel zu treiben. Zu diesem Zeitpunkt lebten bis zu 10.000 Aborigines auf der Insel.

Früh begannen die Eingeborenen, Frauen an die britischen Robbenfänger zu vermieten, zu verkaufen oder zu verschenken. Anfangs als Gehilfinnen bei der Robbenjagd eingesetzt, bürgerte es sich unter den Europäern schnell ein, drei oder vier Aborigine-Frauen zu besitzen, in manchen Fällen unter beiderseitigem Einverständnis als Ehefrau, in anderen schlicht als Sklavin. Als das Angebot an Frauen zurückging, begannen die Robbenfänger, Lager der Tasmanier zu überfallen und sie zu rauben. Gleichzeitig konnten sich Frauen aus der Sklaverei befreien und organisierten erste Überfälle auf europäische Siedlungen.
Ab 1807 kamen verstärkt neue Siedler auf die Insel und gründeten Farmen auf zuvor von Aborigines bewirtschaftetem Land. Kinder wurden aus Lagern der Tasmanier geraubt und als Sklaven eingesetzt, die Eltern wurden oft getötet, um das Land abzusichern. Die Aborigines begannen einen Guerillakrieg gegen die Europäer zu führen, während die Zahl der Soldaten zur Absicherung der Farmen anstieg.

1826 titelte The Colonial Times: „Self-defence is the first law of nature. The government must remove the natives—if not, they will be hunted down like wild beasts, and destroyed!“ Governor George Arthur reagierte schließlich mit einem Gesetz, dass das Töten von Aborigines unter bestimmten Umständen legalisierte. Damit konnten Siedler und das ansässige 40th Regiment auf Überfälle mit Vergeltungsschlägen reagieren. Im April 1827 rächte es sich für den Tod zweier Farmer mit dem Erschießen von 70 Tasmaniern. Im Mai wurden 40 Tasmanier für die Ermordung eines Zimmermanns erschossen. Im Juni wurden nach dem Tod von drei Farmern 100 Tasmanier hingerichtet.
1828 teilte Arthur die Insel in zwei Teile, den von Europäern besiedelten Teil und den Nordosten, der den Tasmaniern vorbehalten sein sollte. Ein Aborigine, der die Grenze übertrat, durfte erschossen werden. Die Grenze war nicht genau definiert.
Eine Reihe blutiger Überfälle von Eingeborenen ließ Arthur umdenken. Am 1. November 1828 verhängte er das Kriegsrecht über die Insel. Während der Governor hoffte, dass aufständische Tasmanier eingefangen, verurteilt und in den Nordosten deportiert werden konnten, verstanden die Siedler die Proklamation als das Recht, Aborigines zu töten.

Im Oktober 1830 bildeten Soldaten und Siedler eine Menschenkette und marschierten von Nordwesten nach Südosten, um die verbleibenden Tasmanier einzufangen und auf die vorgelagerten Inseln zu deportieren. Der Widerstand der Eingeborenen kollabierte, der Kriegszustand wurde aufgehoben. Missionare durchquerten die Insel auf der Suche nach den letzten verbliebenen Aborigines und überzeugten sie, sich zu ergeben und nach Flinders Island deportiert zu werden. 1835 proklamierte George Robinson, der selbst 300 Tasmanier von der Kapitulation überzeugt hatte, dass die gesamte eingeborene Bevölkerung entfernt und nach Flinders Island gebracht worden war. Gut ein Drittel der Deportierten starb bei der Überfahrt, die übrigen wurden durch Krankheiten dezimiert.

Am 8. Mai 1876 starb die letzte Tasmanierin in Oyster Cove, ihre Leiche wurde 1976 verbrannt und die Asche in den D'Entrecasteaux-Channel gestreut.

Holger Martins stand wieder an dem kleinen Bahnhof seines Heimatortes – zum ersten mal seit fast siebzig Jahren. Gedankenverloren schaute sich der nun alte, gebrechliche Mann um. Nichts erinnerte mehr an den kleinen, spärlichen Bau, der in seiner Jugend als Bahnhofsgebäude diente. Denn seit der mit jungen Soldaten besetzte Zug ihn aus seinem Geburtsort Richtung Westen trug, war viel geschehen und die kleine, beschauliche Stadt wurde nach dem Leid des Krieges eines dieser Symbole für das Wirtschaftswunder und war hinterher reicher und prächtiger als sie es je zuvor gewesenen war. Als Holger Martins sich nun auf dem Bahnsteig umschaute, hatte er dieses Gefühl gerade aus einem Traum erwacht zu sein und noch dessen letzte Bilder vor Augen zu haben. Ja, so unwirklich erschienen dem Kriegsveteran all die neuen, modernen Bauten in Verbindung mit der altbekannten Landschaft, einem Symbol seiner Jugend, ein Symbol der Unbeschwertheit, die er hier zurücklassen musste. Und ganz unweigerlich verwandelte sich der Ort vor seinem inneren Auge wieder genau in den, den er zurücklassen musste.

„Holger, pass bloß auf! Gib immer acht, begib dich nicht in irgendwelche unnötige Gefahren und verfall auch nicht in Heldenmut!“ sagte seine Mutter, während sie ihm durch sein lockiges, blondes Haar strich.
„Ach Mutter, du kannst dich auf mich verlassen, vertrau mir.“
„Du weißt doch wie viel Angst ich immer um dich habe. Schon wenn du als kleiner Junge an den Fluss spielen gehen wolltest, starb ich fast vor Furcht, dass du ertrinken könntest oder dir wer weiß was passiert.“
„Ich weiß. Und immer bin ich unbeschadet nachhause gekommen und ich schwöre dir, diesmal wird es nicht anders sein.“
„Aber ein Krieg, das ist doch nicht das selbe wie -“
„Ich weiß, ich weiß. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass ich das hier tun muss.“
„Ja, für den Führer.“
„Nicht nur für den Führer! Für Deutschland und das gesamte deutsche Volk und jeden einzelnen Deutschen.“
„Meinetwegen brauchst du nicht dahinzugehen.“
„Mach das hier bitte nicht schwerer als es ist. Außerdem muss ich jetzt los.“
„Auf wiedersehen, Holger. Ich liebe dich!“
„Ich liebe dich auch!“ antwortete Holger, küsste seiner Mutter die Stirn und stieg in den schon prall gefüllten Zug ein.

„Ich liebe dich auch“ ging es dem wieder alt gewordenen Mann über die Lippen, während eine Träne seine Wange runter lief. „Die letzten Worte die ich je zu ihr sagte, die letzten Worte die ich je von ihr hörte“ sagte er vor sich hin. Und wieder durchströmte ein Erinnerungsfetzen seine Gedanken „Bombenangriff. Sie ist gestorben. Es tut mir leid.“. Doch bevor sich Holger auch diesem Bild aus der Vergangenheit hingeben konnte, fuhr auch schon seine Bahn ein, eine Unterbrechung, die er dankbar annahm und einstieg. Durch das Fenster betrachtete Martins die Umgebung. Einige der Landstriche kamen ihm bekannt vor und erinnerten ihn an die damals so hoffnungsvolle Fahrt gen Westen und plötzlich schoss ihm das Gesicht eines damals ebenso motivierten und kampfeslustigen Jüngling durch den Kopf. „Cornelius! Wie lange habe ich nicht mehr an dich gedacht? Ich hätte auf dich hören sollen. Und auch du bist gestorben ohne dass ich dabei war. Ich bin der einzige der überlebte, aber warum? Ich vermisse dich. Und ich vermisse Mutter. Aber besonders vermisse ich -“
„Mein Herr, geht es ihnen gut?“ fragte die junge, verunsicherte Bahnangestellte.
„Wie? Wo? Ach ja, ja mir geht es gut.“
„Entschuldigen sie, sie wirkten so abwesend und ich wollte nur -“
„Kein Problem, ich habe mich nur an etwas unschönes erinnert.“
„Aus ihrer Vergangenheit?“
„Man könnte fast behaupten aus einem anderen Leben.“
„War-waren sie im Krieg?“
„Ja. Ja, das war ich.“
„Und jetzt...“
„..kehre ich noch einmal zu den Schauplätzen zurück. Ich weiß nicht ob sie verstehen können, wie das ist, aber ich muss dahin zurück.“
„Für ihr Seelenheil?“
„Ja, so könnte man das nennen.“
Mitleidig betrachtete ihn die Zugbegleiterin: „Ich muss nun aber weiter. Ich hoffe sie kommen mit sich selbst ins reine.“
Nachdem die junge Frau weitergegangen war, starrte Holger Martins wieder aus dem Fenster. Diesmal allerdings angestrengt nicht wieder in solche Erinnerungen zu verfallen. Denn dazu wird bereits früh genug wieder Zeit sein. Den Rest der Fahrt über versuchte er also sich abzulenken und nicht an das zu denken, was noch kommen müsse, was ihm wesentlich besser gelang als erwartet. Er ging in den Speisewagen und aß zu Mittag, las mehrere Magazine und unterhielt sich mit einigen Fahrgästen mit aller Leichtigkeit über Trivialitäten. Als hätte es nie einen Krieg gegeben, als wäre der westdeutsche Lebemann nie von dem alten Melancholiker (und schon mit nicht einmal dreißig Jahren war er genau das gewesen) ersetzt oder besser gesagt getötet worden. Es war als ob er die gleiche Fahrt wie vor siebzig Jahren noch einmal durchlebte, nur diesmal ohne Soldaten. Doch bei all dieser Freude wusste Holger eines: War der Anfang dieses Buches gleich, muss es auch dasselbe Ende geben.

Nun war Holger Martins an seinem Ziel angekommen. Nachdem er den Bahnhof verlassen hatte, überblickte er die französische Kleinstadt. Sofort stieg ihm dieser Geruch in die Nase, der Geruch des Kriegs. Und vor seinem inneren Auge spielte sich alles noch einmal ab. Wie er gegen die Franzosen kämpfte. Wie sie die Franzosen einkesselten und besiegten. Wie sie dann die Stadt besetzten. Und wie sie schließlich an dem Abend ihren Triumph gebührlich feierten. Während der ehemalige Soldat also diesen Gedanken nachging schlenderte er durch die Stadt und hielt plötzlich abrupt inne. „Da ist sie!“ dachte der Mann. Und tatsächlich, dort stand die Kneipe in der sie damals feierten. Zögernd trat Holger ein, setzte sich auf einen der Barhocker und ergab sich dem aufbrandenden Erinnerungsschwall.

„Cornelius! Cornelius, ist das nicht einfach fantastisch?“
„Wir haben es ihnen gezeigt! Wir haben es ihnen so richtig gezeigt!“
„Ja, das haben wir! Und wie!“
„Aber jetzt setz dich doch mal.“
„Gleich, einen Augenblick noch.“
Lachend wandte sich Holger weg vom Tresen und seinem Kameraden Cornelius und ging durch die prallgefüllte Kneipe. Da erblickte er sie. Verschüchtert lehnte das brünette Mädchen in der Ecke des Raumes und schaute sich um. Holger ging auf sie zu.
„Komisch“ dachte der alte Mann, „ich weiß nicht mehr was ich dann zu ihr sagte, doch ich sehe sie vor mir als wäre es gestern gewesen. Sie lächelte die ganze Zeit, ja, da lacht sie sogar. Ich muss also einen Witz gemacht haben. Wir müssen fast eine halbe Stunde so dagestanden und geredet haben. Bis...“
„Sie haben mir noch gar nicht ihren Namen verraten.“ sagte der Soldat zärtlich.
„Kommen sie her.“ entgegnete das Mädchen und Holger beugte sich gehorsam zu ihr herunter. „Marianne. Mein Name ist Marianne.“ flüsterte ihm das Mädchen zu.
„Marianne, also.“ sagte er und setzte zu einem Kuss an.
„Nein! Ich meine... nicht hier.“
„Warum denn nicht?“
„Wenn uns jemand sieht!“
„Da ist doch nichts dabei.“
„Hören sie, wir treffen uns draußen wieder, in der Seitengasse. Ich gehe jetzt, aber folgen sie mir erst später! Gehen sie solange noch zu ihren Kameraden.“
Und mit diesen Worten löste sich Marianne aus seinem leichten Griff und verschwand in die Dunkelheit der Nacht. Holger wollte ihr nachlaufen, sie einholen. Was ist wenn sie ihn nur loswerden wollte? Was ist wenn er sie nie wieder sehen wird? Doch bevor er die Initiative ergreifen konnte wurde er aufgehalten.
„Was war das?“ fragte Cornelius, der auf seinen Gefährten zutrat.
„Wie? Ach, nur ein französisches Mädchen, weiter nichts.“
„Pass auf was du tust und vergiss nicht warum du hier bist.“
„Mach dich nicht lächerlich, Cornelius! Das ist doch nur Spaß, Zeitvertreib, weiter nichts. Lass uns lieber schnell was trinken.“
Und somit traten die beiden Soldaten an den Tresen, wo sie tranken, schwatzten und feierten. So verging vielleicht eine Viertelstunde bis Holger sich verabschiedete. „Es war ein langer Tag und ich bin müde, ich gehe jetzt lieber zur Kaserne zurück. Bis morgen!“. Unter dem Gelächter und den Sprüchen seiner Kameraden verschwand der junge Soldat. Doch den Spott vernahm er kaum, denn sofort packte ihn wieder die Angst. „Was ist wenn sie nicht auf mich gewartet hat? Habe ich sie zu lange stehen gelassen? War das alles nur ein Trick, ein Scherz?“. Hastig trat Holger Martins in die noch junge Nacht hinaus. Hektisch schaute er sich um. „Wo steht sie? Hat sie mich womöglich wirklich alleine gelassen?“. Doch da schaute sie aus der Dunkelheit der Seitengasse hervor und Holger fand, dass der Mondschein ihr helles, kleines Gesicht noch ein Stück schöner machte, sofern das überhaupt möglich war. Der junge Soldat stürmte auf seine Geliebte zu (denn in seinem inneren war sie schon längst genau das für ihn), umarmte sie worauf das große Finale des 1. Akts ihres Liebesdramas folgte: Der Kuss. Und als sich ihre Lippen berührten war alles egal, denn dieser Kuss war wie ein Friedensvertrag. Vergessen war der Krieg, vergessen war die Mission und vergessen war auch der Führer, das Deutsche Reich und all seine Bewohner. In diesem Moment durchfuhr Holger ein Gefühl, eine Elektrizität, die alles andere was um ihn herum oder in seinem Kopf geschah in verschwommene und ferne Hintergründe rückte.

„Hallo? Was wollen sie bestellen?“
Wieder wurde Holger Martins abrupt aus seiner Gedankenwelt gerissen und aus dem kräftigen Soldat wurde wieder der schlaffe, alte Mann.
„Bestellen? Ach ja, einen Bourbon, bitte.“
Nach diesem bitter nötigen Drink verließ er das Lokal und machte sich auf zu seinem Ziel, den Außenbezirken im Westen der Stadt. Während der gebrechliche Mann durch die Straßen schlenderte stiegen erneut Bilder vor seinem inneren Auge auf, davon wie er diese Straßen das letzte mal durchschritt, zusammen mit Marianne. Er sah all die Läden von damals vor sich, der Lebensmittelstand an dem er ihr immer einen Apfel kaufte, die Boutique an deren Schaufenster Marianne immer stehen bleiben musste und das Blumengeschäft, in dem er so häufig gewesen war. Doch da musste Holger plötzlich abrupt stehen bleiben, denn er erblickte tatsächlich den gleichen Blumenladen mit dem gleichen Namen wie damals. Zunächst blieb er zögernd vor dem Schaufenster stehen, doch dann fasste er sich und trat ein. „Ja, auch wenn die Einrichtung neu und alles nun anders dekoriert ist. Auch wenn der alte Blumenverkäufer schon längst tot ist, dennoch ist das hier derselbe Laden wie damals.“ dachte der frühere Soldat, schwelgte dabei in Erinnerungen und kaufte halb robotisch, wie aus alter Gewohnheit und halb vorausschauend auf das, was er zu tun hatte, einen Strauß roter Rosen und kehrte auf seinen Weg zurück. So ging er weiter und weiter bis er bei dem vermeintlichen Außenbezirk angekommen war. Denn wie auch sein Heimatort, hatte sich diese kleine, französische Stadt vergrößert und was früher nur Felder, Wiesen und Gutshöfe waren, war heute ein voll bebauter Teil der Stadt. Doch auch durch diese Betonfassade hindurch erkannte Holger Martins die alten Gebäude, er sah auch die Scheune, in der sie sich das erste mal richtig liebten. Zwar vernahm er wieder keines ihrer Worte, doch spürte er jede ihrer Berührung und fühlte all die Gefühle von damals mit der gleichen Intensität wieder. Wieder lag er dort mit Marianne und küsste sie, liebte sie, vereinigte sich mit ihr. All das durchfuhr ihn aufs neue, dieses Gefühl das erste mal wirklich zu Lieben.

Der alte Mann tauchte aus seiner Traumwelt auf und ging weiter. Doch merkte er kaum was um ihn herum geschah, fast schon mechanisch marschierte er weiter und erst als er bei der Brücke über dem Fluss angelangt war, kam er wieder zu Bewusstsein. Traurig schaute er hinunter aufs Ufer. „Wie oft wir an dieser Stelle gesessen haben. Das waren die schönsten Stunden des Kriegs, manchmal vergaß ich sogar, dass noch Krieg war.“ sagte Holger Martins vor sich hin, während er in diesen Erinnerungen schwelgte, war fast gewillt hinunterzugehen, doch er wusste es war zu früh dafür. Also ging er weiter und dachte zum ersten Mal an den richtigen Krieg. Denn so abrupt wie sein Glück kam, wurde es ihm wieder aus den Händen gerissen. Er erinnerte sich genau an das, was sie die Befreiung von Frankreich nannten und wie sich seine Division aus der Stadt zurückzog. Danach wurde er verletzt und verbrachte den Rest des Krieges im Lazarett und in Gefangenschaft. Hinterher sagten sie ihm wie viel Glück er doch hatte, leben zu dürfen obwohl so viele seiner Kameraden gefallen sind. Ja, auch er selbst betrachtete das erst als Glück, bis…

Nun stand er vor dem Friedhof. Holger Martins holte Luft und Schritt durch die Reihen von Gräbern, begleitet von einem Gefühl tiefer Trauer und Angst. Und da, am nördlichen Ende des Friedhofs sah er das kleine, unscheinbare Grab. Ungläubig starrte der ehemalige Besatzungssoldat auf den Grabstein.

Zitternd legte er den Blumenstrauß auf das Grab, gedachte seiner einzigen Geliebten, den langen gemeinsamen Nächten, den wunderschönen Tagen, allem was zwischen ihnen geschehen ist und fing an zu weinen. Nahezu zehn Minuten hockte er so über ihrem Grab, bis er sich schließlich erhob und den Friedhof verließ. Von außen betrachtet wirkte der Mann nun ruhig, so als ob er tatsächlich seinen Seelenfrieden gefunden hat. Doch in seinem inneren brodelte es und Holger konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.
„Warum? Warum nur? Suizid. Der Abschiedsbrief. 'Sie erniedrigten mich, rasierten mir den Schädel und das alles nur weil ich die lieb!'. Selbstmord. 'Es tut mir leid'. Scham. Schande. Suizid. 'Ich werde dich für immer lieben'. Schmerz. Verachtung. Suizid. 'Vergiss mich nie'. 'Ja mein Herr, es tut mir leid, aber das arme Mädchen hat sich ertränkt.' Suizid. Ende. Tod. 'In Liebe, Marianne'.“
In seinem Delirium schritt der alte Mann den Weg zurück und ging zur Brücke. Doch diesmal ging er tatsächlich runter zu dem Ufer. „Genau an die Stelle, wo sie sich immer trafen. Genau an die Stelle von der aus Marianne“. Nein, er konnte es nicht ein weiteres mal aussprechen. Fassungslos starrte Holger Martins auf die Strömung des Flusses. Und erneut sah er sie vor sich. Das junge Mädchen, mit dem kahl rasierten Schädel, beschämt von ihrer eigenen Familie und nur wegen ihrer Liebe zur Schande erklärt. Sah, wie dieses liebeskranke, fast wahnsinnige Mädchen, nachdem sie eines nachts von zuhause weglief, zu dem Fluss kam, an dem sie sich so oft trafen. Und nun sah er wie sie sich aus lauter Verzweiflung in die Strömung warf. Holger trat näher an den Fluss heran, so dass er schon seine Schuhe bespritzte. Unwillkürlich ging ihm die Stimme seiner Mutter durch den Kopf. „Holger, pass bloß auf dich auf! Der Fluss ist gefährlich, wer weiß was dir da alles passieren kann.“. Holger ging noch einen Schritt weiter.

„Weißt du, ich fühle mich einfach nicht ernst genommen.“
Sie sagt das nicht wütend. Eher resigniert, fast hoffnungslos. Diese klischeeüberladenen Worte sind nicht leichtfertig gewählt, sie weiß sich nicht mehr anders zu helfen.

„Es ist, als ob du durch mich hindurch schaust, wenn ich mit dir rede. Als würdest du tagträumen.“
Ihre Worte sind sehr überlegt moduliert. Zu überlegt. Wäre sie doch etwas impulsiver.
Sie war impulsiv. Sie hat geschrien und Dinge zerstört, mit Vorliebe auch sich selbst. Nicht selten hat sich die aufgestaute Aggression in Sex entladen. Wenn man genau hin sieht, erkennt man die feinen Narben, die den Rücken als Erinnerung zieren. Es tat unheimlich gut, weil so keine frischen Narben mehr auf ihren Armen und Beinen auftauchten. Es tat gut, bis sie ging.

„Na, Sprache verschlagen?“
Nun mischt sich doch ein Hauch von Wut in ihren Tonfall. Ihr hochgezogener rechter Mundwinkel unterstützt die sarkastische Frage. Dabei offenbart sich ein Grübchen.
Ein Grübchen wie sie es hatte.

„Oh wow, große Augen. Danke für den Gefühlsausbruch. Als du in der Bar so leer vor dich hin gestarrt hast… Hätt's lassen sollen.“
Vor dem letzten Satz lässt ein Schnauben den Mundwinkel besonders hoch wandern. Das Grübchen ist besonders tief.

„Wenn du nichtmal darauf antworten kannst, bin ich weg.“
Ein Moment verstreicht. Keiner atmet. Das Grübchen verschwindet. Ein letzter Schnauber, ein Kopfschütteln, sie geht.
Ihr Gesicht ist bereits vergessen. Ihr Gesicht wird es wohl nie sein.
Das Gesicht mit den Grübchen, die nicht mehr sind.
Jetzt entweicht die angehaltene Luft. Es klingt, als wäre jemand beinahe erstickt.
An der einen Erinnerung, die alle anderen tilgt.

Frühling:
Die Straße voll Trubel, ekstatische Leute
in Jubelschreien "Es wird alles anders ab heute."
Die Nation ist eins, vereint in der Meute;
und seine Augen leuchten voll Freude.

Sommer:
Der Kopf ist frei, der Körper gedrillt,
der Hunger nach Ruhm wohl bald schon gestillt,
die letzten Zweifel in die letzte Lade verbannt,
einst fruchtbares Land zu schwarzer Erde verbrannt.

Herbst:
Prasselnder Regen, lautes Heulen in der Nacht,
Warten auf den Befehl, fünf Minuten bis Acht.
"Looos", er springt auf, denn es ruft die Pflicht,
"Mutter", denkt er, "ich vermisse dich."

Winter:
Die Gedanken sind nah, das Fleisch, es ist weit,
ein Klingeln an der Tür, zu nächtlicher Zeit
tut Kunde, die das Herz dann entzweit.
"Ihr Sohn war ein Held. Es tut uns leid."

kurzlangkurzkurz kurzkurz kurz langkurzkurzkurz kurzkurzkurz lang kurz / langlang kurzlang langlang kurzlang / kurzkurzkurz kurzkurz kurz / kurzkurzkurz kurzkurz langkurz langkurzkurz / langkurzkurz kurzlang / kurzkurz langkurzlangkurz kurzkurzkurzkurz / kurzlangkurzkurz kurzkurz kurz langkurzkurzkurz kurz / langkurzkurz kurzkurz langkurzlangkurz kurzkurzkurzkurz / langkurzkurz kurz kurzkurz langkurz / kurzkurzkurz langlanglang kurzkurzkurzkurz langkurz

liebste / mama / sie / sind / da / ich / liebe / dich / dein / sohn

das schreiben an sich hat sehr viel spaß gemacht, überhaupt finde ich die challenges auf r.in grad sehr unterhaltsam. Hier kommt kein konkurrenzgedanke auf (jedenfalls bei mir nicht) sondern eher so gesellschaftsspiel-feeling (mal abgesehen von dem daumengebitche hier =/)

Mir haben alle beiträge ganz gut gefallen, hab mich daher auch ein wenig schwer mit den punkten getan.

Die unterschiedlichen ansätze und die verschiedenen stile machen das total interessant, zumal man hier glaub ich auch keine hohen ansprüche stellen sollte.

Beste unterhaltung war für mich schon cuttack. Nah am thema, bisschen obskur geschrieben aber in sich auch schlüssig, son bisschen kriegs-narnia lol

Kuhru hat den punkt bekommen weil sich das wie ein guter historischer beitrag liest, die zeiträume und phasen der "besiedlung" tasmaniens sind schlüssig. Die form bleibt sich treu und ist stringent. Fucking indianer!

Sanchyes fand ich sehr lebendig geschrieben, das liest sich locker und die szenerie ist überwiegend gut beschrieben, sodass man schnell bilder vor augen hat. Ich fands dafür aber ein wenig emotional überladen, der fokus liegt denke ich mehr auf marianne, gleichzeitig wird aber der tod der mutter und seiner kameraden behandelt, sodass am ende der effekt bezüglich marianne abgeschwächt wird. Außerdem verwirrt es ein wenig, dass er nach 70 jahren das erste mal in seine heimat kommt, nur um von dort das erste mal wieder an den kriegsplatz zu fahren. Da spielt auch dieses überemotionale mit rein, also er schwelgt in erinnerungen und erlebt seine heimat neu, ist aber direkt wieder weg. Den schluss mit dem fluss fand ich dann aber wieder eine gute idee!

Bei respektperson habe ich kurz gebraucht, dahinterzusteigen, was vor sich geht. Erst dachte ich, da streiten sich zwei lesben haha
Dann hab ichs aber doch gepeilt. Hier wurde das thema krieg eigentlich am lockersten behandelt, die überleitung bildet dann der titel. An sich eine sehr schöne kurze geschichte, aber dann doch zu sehr am thema vorbei für einen punkt

2 punkte für leroy
Da stimmt das metrum, inhaltlich passt es, der effekt sitzt. Ich glaub, sowas könnte man auch gut im deutschunterricht behandeln. Ich hab aber überlegt, ob ich hier einen punkt gebe, weil man ekstase mit k schreibt.

Kaninchen kurz und knackig. Danke für die übersetzung, das wäre mir sonst ehrlich gesagt auch zu blöd gewesen^^

Die 3 punkte an max gibts für wortwahl und schreibstil. Ich war da sehr angetan. Teilweise hatte ich das gefühl, dass er meine ansätze besser ausformuliert. Grade die beschreibung von gefühlen und wahrnehmungen wird schnell eintönig, ich hab oft die selben formulierungen benutzt und musste dann andere suchen, und ich finde, das ist max ganz gut gelungen. Ein breiter wortschatz, lebendige sprache und ein gutes gefühl für den leser, daher die 3 punkte, wenn auch hier das thema mehr eingearbeitet als ausgearbeitet ist.

bin mal gespannt, was ihr da alles zum Thema Krieg abgeliefert habt.

RockyRac
RockyRac beginnt den Wettbewerb mit einer Kurzgeschichte die in einer gar nicht mal so fern weg erscheinenden dystopischen Zukunft in der die Welt auf Grund eines Weltkrieges in eine extreme Anomalie gestürzt ist. Hast dir auf jeden Fall ziemlich Mühe gegeben und auf jeden Fall einiges an Gedanken in das Szenario gesteckt. Mein Problem ist aber dass ich einfach ab einem gewissen Punkt bisschen das Gefühl habe von Informationen und Eindrücken überrannt zu werden, und dann wirkt das ganze auf mich recht langatmig, so dass ich während des Lesens schon wieder völlig den Einstieg vergessen habe. Dafür dass das aber wohl eine deiner ersten Kurzgeschichte, die du bisher geschrieben hast, ist, finde ich die Story eigentlich recht gut.
was ist der Gedanke hinter den * mitten im Fließtext gewesen?

Cuttack
Ich bin mir nicht sicher ob ich deine Geschichte komplett richtig interpretiere, ist er tot und im Paradies oder ist er wirklich einfach an so einer Parallelwelt gestrandet. auch bin ich mir nicht ganz sicher in welcher Zeitepoche wir uns befinden, dachte erst 2WK, aber das funktioniert dann auch nicht wirklich, wirkt dann doch eher neuzeitlich, schon alleine wegen der Sprache. Da dein Text "Pt. 2" heißt schließe ich mal daraus dass es eine Art ersten Teil gibt; kurze Suche hat mich zu dem Lied (das ist doch sogar von prezi gesampelt worden oder?) geführt, verstehe glaube ich immerhin jetzt teils worauf du hinaus willst, wir sind away from this sad world. interessant.
Also so wie ich es jetzt verstehe geht es ja nur um das aufeinander prallen dieser zwei sich unter einer völlig anderen Umwelt geprägten Personen, er der Typ der gerade aus dem Krieg kommt und sie - die eben wie wir es wohl aus der sad world bezeichnen würden - noch eine totale kindliche Unschuld besitzt. Diese absurde Aufeinandertreffen versuchst du dann auch an dem teils absurden Dialog zu veranschaulichen, ich persönlich feier aber dieses krasse Umgangssprachliche in dieser Form hier nicht so ganz. Verlauf ist leider etwas vorhersehbar (was ist land, was ist krieg), aber ich glaube ich übersehe noch immer irgendwas.

Kuhru
"fick den Kurzgeschichtenwettbewerb, ich poste meinen Geschichtsaufsatz" denkt sich kuhru - Spaß beiseite. Ist natürlich sehr interessantes Konzept, dass du die Formfreiheit auf eine völlig neue Metaebene bringst, anbei auch ziemlich cool mal bisschen was über die Geschichte von dem Land Tasmanien zu erfahren, weil das ist ja alles wahr was du da schreibst - zumindest was meine kurze Recherche ergeben hat. Ich hab echte Probleme das zu bewerten und in Relation zu den anderen Kurzgeschichten zu setzten, die ganzen Fakten/Daten sind richtig und ich sehe auch keinen Stilbruch, außer dass vermutlich in einem normalen Sachtext erwähnt worden wäre, dass eben diese Menschenkette Black Line genannt wurde, aber das ist ja eben deine Intention, dass man beim recherchieren auf den dazugehörigen Wiki-Artikel trifft und dann selbst anfängt über diese Sinnbildlichkeit für die dieses Ereignisses für die ganze Geschichte Tasmaniens steht nachdenkt, deswegen kann ich das auch nicht wirklich als Kritikpunkt anstreichen.
Die letzte echte Tasmanierin starb aber wohl 1905!

Max
Auf jeden Fall gut geschrieben von dir, schaffst es ziemlich gut, dass man als Leser eine ziemliche Antipathie gegenüber dem Protagonisten entwickelt, z. B. diese ganze Gelaber von Poesie lässt ihn schon schön als das Arschloch, das er ist darstellen. gefällt mir. Charakter ist echt gut beschrieben auch die Informationen die man zwischen den Zeilen rauslesen kann. Der Themabezug wirkt aber etwas off, wirkt bisschen als wäre das nur der Themaverpflichtung willen eingeschoben, dadurch reißt finde ich bisschen der Faden.

Sanchyes
Man merkt, dass du nicht ganz in der Zeit fertig geworden bist. Die Dialoge finde ich stellenweise recht unpassend und unecht, auch paar Formulierungen nicht ganz perfekt, das stört auch recht den Erzählfluss. Die Pointe ist dann, aber gut, da eben wieder auf den mehrmals erwähnten Fluss wieder Stellung genommen wird und so wird die ganze Geschichte schön abgerundet. Auch die Zeitsprunge wurden meiner Meinung nach gut gelöst und alles bleibt recht fliesend. Die Liebesgeschichte und die übermittelten Gefühle sind auch schön gemacht. Vielleicht hätte man auch noch an der ein oder anderen Stelle etwas kürzen können

Respektsperson
Respektperson hat hier eine Mischform aus Kurzgeschichte und Gedicht, finde das recht schön gemacht. Übergang da ist schön fließend. Aber auch hier bin ich mir nicht 100% sicher ob ich es auch richtig, verstehe, aber es geht wohl darum, mit der kursiven Schrift einfach die zwei Seiten der Freundin aufzuzeigen. Schön wie du es schaffst hier 2 Charaktere aufzubauen und auch eine gute Tiefe einzuhauchen. So wie ich das verstehe haben die ja beide eine Art Folie à Deux (die Leute die hier sich ernsthaft mit Psychologie auskennen mögen mir bitte verzeihen, dass ich den Begriff hier völlig falsch verwende), sie hat offensichtlich starke Gefühlsschwankungen (Borderline?), die auch zu einem großen Selbsthass und Selbstverletzungen führen. Er ist aber auch nicht wirklich ganz psychisch problemfrei, offensichtlich liebt er nur sie, die kaputte Version und nicht sie - die gesunde Version.
weiß aber gar nicht ob es das Songzitat unbedingt gebraucht hätte, finde das wirkt dann immer recht schnell nach so künstlichem Pathos, aber das ist wohl dann Geschmackssache

LeRoy
oh, ein Gedicht als nächstes. erst mal props dafür, dass du dir das zutraust, finde Gedichte sehr unangenehm zu schreiben (und auch zu bewerten :(). Man weiß natürlich schon direkt worauf, das ganze hinauslaufen wird, aber das ist ja gar nicht so wichtig geht ja hier mehr um die Form. Im großen und ganzen finde ich das Gedicht auch gut und baut schon eine gute Atmosphäre beim Lesen auf und man fühlt auch mit, allerdings gibt es da hin und wieder mal eine Zeile die mich bisschen stört, was halt bei einem Gedicht doch schon fatal sein kann, z. B. die Augen voll Freude-Zeile, die geht mir irgendwie sehr schwer über die Lippen, da glaube ich anderer Rhythmus oder so. Auch die Zeit-entzweit Zeilen find ich in der Kombination zusammen bisschen unschön. Die Schlusszeile hingegen finde ich sehr schön, die durch ihre Simpelheit das ganze super abrundet und einfach schön klingt. 3. Strophe finde ich am besten, da hast du die beste Wortwahl und kommt auch sehr schön atmosphärisch.

EinKaninchen
hm, das ist jetzt schwierig. Aber ehe meine Bewertung da jetzt noch viel länger ist als dein Text, fasse ich mich mal kurz: Die Idee finde ich ziemlich cool und die Umsetzung ist auch sehr gut. Das "Liebste" kommt super. Morsecode scheint auch zu passen, also hab eigentlich nix auszusetzen. simpel und effektiv

Fazit
Die 3 Votes hier zu verteilen ist echt nicht ganz leicht, da wir sehr viele ähnlich starke, aber trotzdem sehr unterschiedliche - was einen direkten Vergleich unglaublich schwierig macht - Geschichten haben. Würde mich dann wohl bei Platz 1 für Respektsperson entscheiden, da ich finde dass seine Geschichte eine interessante Idee ist Krieg als Kampf der Emotionen zu interpretieren und auch er eine schöne Mischung aus Subtilität und Direktheit hat, die einen zwar schön Freiräume für die eigene Vorstellung lässt, aber auch zumindest die Angaben in eine konkrete Richtung lenkt. Platz 2 geht an Kaninchen, da ich das Konzept ziemlich feier, finde auch manchmal so 6wordstories ziemlich cool. bei Platz 3 schwanke ich etwas zwischen Max, Kuhru und LeRoy. LeRoy hat hier mMn schon die ganz klar anspruchsvollste Aufgabe sich selbst gegeben, aber sein Gedicht hat auch ein paar Schwachstellen. Max hat eine schöne Geschichte abgeliefert, aber leider einen etwas seltsamen Themabezug. Und Kuhru hat eben einen sehr guten Sachtext geschrieben, aber eben einen Sachtext Hab mich jetzt 10min später für kuhru entschieden, warum er den Punkt und nicht max oder leroy bekommt kann ich aber selber nicht ganz begründen.

3 Punkte: Respektsperson
2 Punkte: EinKaninchen
1 Punkt: Kuhru

Rocky - Das Setting ist so weit schön beschrieben, aber Ende finde ich zu lasch. Ich hatte gehofft, dass er seinem Vater den Gnadenstoß versetzt. Du hättest vermutlich noch mehr Raum gebraucht, um aus dem Setting eine größere Geschichte zu formen, so fehlt mir irgendwie ein richtiger Plot.

Kuhtack - Ende erster Absatz ist direkt ein Zeilenumbruch des Todes. Sowas kann man einfach nicht machen. Ansonsten - ein Soldat wird nach Utopia gebombt, wo es keinen Krieg gibt und alle Gedichte lesen. Das ist mir fast schon ein bisschen zu nett. Die Darstellung der Figuren und des Settings sind mir auch ein bisschen zu simpel. Da fehlt mir ein wenig die Tiefe in der Geschichte.

Max - Eine ziemliche Antikli, Max (hehehe). Wenn man am Anfang ein paar Geschichten über den Krieg gelesen hat und du dann mit ausschweifenden und affektiert-deliziösem Sprachduktus in der Vergangenheit schwelgst erwartet man etwas mehr, als die Urlaubskarte eines Stalkers, (obwohl es sich am Ende eher wie eine SMS anhört, höchst merkwürdig). Zudem fällt die Sprachebene ziemlich stark ab. Die Hauptfigur wirkt auf mich weniger poetisch und mehr, als hätte sie einen ernsthaften psychischen Knall und in dem Fall ist es völig gerechtfertigt, wenn sie das Sorgerecht nicht bekommt!!! Im Endeffekt wirkt die Geschichte auf mich wie zwei sehr unterschiedliche Geschichten, die stilistisch nicht richtig zusammenpassen. Andersherum hätte es vielleicht besser funktioniert.

Sanchyes - Eine Geschichte, die mit einem ertrinkenden Nazi endet, ist eine gute Geschichte! Schön, dass du an meinen Hinweisen noch gearbeitet hast. Das Grundthema finde ich zwar wirklich gut, aber das Setting wirkt etwas konstruiert und das Ende ist seeeeeeeeeehr pathetisch. Hier wäre weniger mehr gewesen. Der Plot ist auch etwas vorhersehbar.

Respektsperson - Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht wirklich, worauf du hinaus willst. Und so sehr ein wenig Mystik und Geheimnisvölle einer Geschichte auch gut tut, hier ist es mir muy muchos. Es fehlt so ein wenig das Subjekt oder ein erzählerischer Rahmen, an dem man sich festhalten kann.

LeRoy - Ein Gedicht! :chu: Inhaltlich finde ich es ganz gut gemacht, durch die Jahreszeiten hast du einen guten Rote Faden und die Formulierungen sind auch beinahe Kästneruesqe. Stilistisch gibt es ein paar Wackler, vor allem in der Herbststrophe ("Lautes Heulen in der Nacht"). Die Reime sind mir teilweise zu simpel, und wenn man ein AABB-Schema benutzt fällt das schnell recht deutlich auf.

EinKaninchen - Finde die Idee sehr cool. Mehr hätte man zum Thema eigentlich auch nicht sagen müssen und Morsecode ist auch eine sehr authentische Form.

Kaninchen bekommt die drei Punkte für gute Idee + Prägnanz, LeRoy zwei Punkte da gutes Gesamtbild und Rocky bekommt ca. einen Punkt für den guten Aufbau des Settings und der Figuren.

Punkte:
3 - EinKaninchen
2 - LeRoy
1 ~ Rocky

Vorweg: Interessanter Wettbewerb! Gute und interessante Werke. Das Schreiben, Lesen und Bewerten hat Spaß gemacht. Bin selbst erst kurz vor Fristende auf die Challenge gestoßen und fand das Thema sehr schwer. Bei keinem Beitrag hat sich das befürchtete Augenrollen wegen Klischeeüberladung eingestellt, mag ich. Punktevergabe war auch dementsprechend schwer. Hätte gern mehr geschrieben, Zeit fehlt leider.

RockyRac: Hübsche Geschichte, hübsches Szenario, das du durch die geschickt portionierten Details authentisch wirken lässt. Lässt sich sehr smooth runter lesen. Dabei bleibt es dann aber auch. Die ersten 4 Absätze plätschern mehr, als dass sie wirklich mitreißend sind. Wirkt ein bisschen wie eine zu lang geratene (aber für sich genommen echt gute) Einleitung mit Flashbacks und im Vergleich eine dann wiederum zu gepresste Handlung im letzten Absatz.
Kleine grammatikalische Klugscheißerbemerkung noch: „scheinbar als Sichtschutz ein paar Holzpaletten“ ist genau genommen inkorrekt, es sei denn, sie dienten definitiv nicht dem Sichtschutz. Kannst mal die Definitionen von anscheinend und scheinbar vergleichen oder es lassen.

Cuttack: Super Idee, Umsetzung zwiespältig. Deine sonst sehr starke Wortmodulation kommt gerade im Dialog zwangsläufig nicht so ganz zur Geltung. Und auch wenn es inhaltlich logisch ist, wirkt das ständige Nachfragen mit der Zeit irgendwie ermüdend. Hätte man vielleicht etwas abkürzen können, ohne inhaltlich etwas einzubüßen.

Kuhru: Interessant! War definitiv ein Gedankenanstoß, deinen Beitrag zu lesen. Sprachlich bist du ähnlich souverän unterwegs wie Cuttack, aber wegen des gewählten Stils gibt es auch ähnlich wenig Potential für Exzellenz. Sicher einer der am wenigsten verbesserungswürdigen Texte.

Max: Die erste Hälfte des ersten Absatzes gefällt mir sehr, Inhalt und Wortwahl bilden etwas entwaffnend Ehrliches. Diese „ich liebe deine (vermeintlichen) Mäkel“ - Attitüde ist auf eine verquere Art sympathisch. Weil ich so fokussiert auf diesen Teil war, ist mir die dann eingeschlagene Richtung sehr schwer gefallen, auch weil der Schreibstil dann irgendwann so phasenweise ins Saloppe bricht. Die Idee insgesamt finde ich auch eher so lala, ohne dass ich konkret benennen könnte warum oder was ich besser finden würde.

Sanchyes: Es mag an dem Sauwetter momentan liegen, aber beim Lesen hatte ich tatsächlich einen kleinen Schauer über den Rücken. Du hast sehr geschickt die Details der Liebschaft ausgelassen, es wäre denke ich extrem schwer gewesen, bei dem Setting die Gratwanderung zwischen Oberflächlichkeit (und damit Authentizitätsverlust) und Kitsch beim in die Tiefe gehen zu meistern. So bleibt das Maß an Kitsch erträglich. Interessant sind auch die zusätzlichen Faktoren und Motive der Liebenden durch Mariannes Suizid (anstelle eines direkten „Kriegsverlustes“).

LeRoy: Extrem anspruchsvolle Formwahl, dementsprechend holpert es an der ein oder anderen Stelle. Größtenteils merkt man aber die Mühe, die drin steckt. Thematisch sind die beschriebenen Phasen ziemlich durchgekaut, umso beeindruckender, dass dir eine interessante Aufbereitung gelingt. Vor allem das Finale finde ich sehr stark gemacht.

EinKaninchen: Bin ein großer Fan davon, wenn wenig Worte einen so großen Effekt haben. Das gelingt dir gut, hat durchaus einen faden Beigeschmack. Auch die Formwahl ist natürlich eine klasse Idee. Obwohl aus der Not geboren (soweit ich das mitbekommen habe), ein starker Beitrag.

1 Punkt: EinKaninchen. Knappes Rennen mit Rocky, aber dann geht doch Idee über Mühe.
2 Punkte: Sanchyes. Für Ausgewogenheit, Stimmigkeit und Gefühle.
3 Punkte: LeRoy. Für alles zusammen. Hoher Anspruch, Prägnanz und wirklich interessante Umsetzung eines faden Themas.

Rocky: Schönes, postapokalyptisches Setting, baust auch intelligent Details ein, die dem Szenario Leben einhauchen und Hintergründe liefern. Die Handlung ist natürlich leicht absehbar und du schaffst es leider auch nicht wirklich dem Ganzen mehr Tiefe zu verleihen oder das durch stilistische Mittel rauszureißen. Du meinst ja aber selbst, dass du dich noch nie wirklich an sowas versucht hast und dafür ist das schon solide. Also bleib ruhig mal dran.

Cuttack: Hm, bin ja sonst n großer Freund von deinen Stories aber finde die hier schon schwächer als was du sonst so eingereicht hast. Stimmungstechnisch ist es wieder ziemlich gelungen, aber die eigentliche Handlung reißt mich hier nicht so mit und wirkt auch etwas random. Dennoch eine gute Einreichung.

Kuhru: Sehr interessanter Ansatz, dieser enzyklopädische Stil gefällt mir hier sehr und erzeugt die passende Stimmung für das Szenario. Ist natürlich auch allgemein wieder ziemlich schön geschrieben. Zudem ist das ein guter Gegensatz zu den sonst doch eher mehr oder weniger stark emotional geprägten Einreichungen.

Max: Interessante Interpretation des Themas, gefällt mir ziemlich gut. Schaffst es auch durch die Aussagen des Hauptcharakters ein deutliches Bild von diesem zu zeichnen, finde ihn ziemlich unsympathisch, denke aber mal, dass du darauf abgezielt hast. Also alles richtig gemacht. Die blauen Haken sind dann nochmal ein netter Abschluss.

Respektsperson: Auch wieder eine freiere Interpretation des Themas. Einleitung mit dem Songzitat gefällt mir und das Setting ist dir auch ziemlich gut gelungen. Hast wirklich glaubhaft dargestellt was in dem Kopf des Protagonisten vorgeht, kann mich da gut rein versetzen.

LeRoy: Konzept finde ich cool un hebst dich auch dank der Form ziemlich vom Rest ab. Die Sommerstrophe ist auch ziemlich gut gelungen, die anderen lesen sich im Vergleich dazu leider etwas holprig, auch weil einige der Formulierungen nicht so cool sind.

EinKaninchen: Idee ist ganz nett, Telegram auch ne gut gewählte Form für das Thema. Hat auch eine schöne Emotionalität. Sonst kann man da ja nicht sonderlich viel zu sagen.

Punkte:
3 Punkte: Max
2 Punkte: Respektsperson
1 Punkt: Kuhru

Rocky
teilweise etwas holprige, gewollt klingende Passagen, teilweise richtig stimmig formuliert (zB (-) ‚Oftmals war es besser, keine unnötige Gefahr darzustellen, was bedeutete, auch niemandem zu nahe zu kommen.‘ & ‚Erstens: Mein Sohn hat den Wert der Liebe und der Menschlichkeit gelernt.‘ / (+) ‚Am Ende blieb nichts – keine Regierung, keine Kommunikation, kein Glaube und keine Hoffnung.‘ & ‚Zweitens: Ich sterbe. Und dann lächle ich.‘)
War mir teilweise etwas zu langwierig, aber schöne Sache, mit den Zeitwechseln und generell das Szenario. Also, das Szenario ist NICHT schön, aber ihr wisst schon, was ich meine. Ne?

Cuttack
Uuuh, schnieke Sache. Aber hey, der Penis irritiert mich auch. Auf einmal isser da.
Kuhles Ende. Vielmehr hab ich nicht zu sagen.

Kuhru
Irgendwie ist es ein Sachtext und irgendwie auch nicht. Zumindest in meinem Kopf nicht. Durch die Nüchternheit grausam.

Max
Ahhhhh, der Wechsel vom ersten/zweiten in den dritten Absatz. Zu gut gemacht. Und natürlich ein für die Form.

Sanchyes
‚„Meinetwegen brauchst du nicht dahinzugehen.“‘ - ooooh.
Die Bahnangestellte ist bisschen unglaubwürdig, irgendwie. Das passt mir nicht. :zeter: Die anderen Gespräche find ich deutlich besser dargestellt.
Insgesamt hätte ein bisschen mehr Feinschliff der Geschichte ganz gut getan.

Respektsperson
Richtig gut. Da sitzt auch so ziemlich jedes Wort, finde ich. Auch eine kuhle Idee vom „Themenbezug“ her. Ich hätte es ohne den Titel wohl nicht gecheckt, aber so ist es sehr stimmig.

LeRoy
Frühling 1-4 und Sommer 1-2 find ich absolut perfekt formuliert.
Sommer 3-4 und Herbst 1 ziemlich zungenbrecherisch.
Herbst 2-3 und Winter 1-4 fließen dann wieder richtig schön, in unterschiedlichen Flüssen.
Ich will jetzt nicht so tun, als hätte ich wahnsinnig Ahnung von Gedichten bzgl. Reimschemata und Metrum und so, aber beim Lesen fällt mir auf, dass sich manche Stellen etwas holpriger lesen lassen als andere. Ich lese Gedichte gern laut. Auf jeden Fall schöne Umsetzung und richtig passende Idee mit den Jahreszeiten.

FAZIT UND SO
Boah, wie schwer. So viele verschiedene Ansätze, an sich ist da ja nichts miteinander vergleichbar, weil alles irgendwie anders ans Thema rangeht. Das ist so kuhl. Ich find, alle Beiträge hätten Punkte verdient, aber nein, das darf nicht sein, also muss ich mich entscheiden. =/

3 Punkte an Respektsperson, auch weil sehr fühlbar.
2 Punkte an Max, weil schöner Umgang mit Erwartung/Thema.
1 Punkte an Cuttack und LeRoy, weil ich kann. Oder, kann ich? Ich kann mich auf jeden Fall nicht entscheiden.

Wenn wer noch mehr zu den Texten von mir lesen wollen sollte, benachrichtige mich diese Person, bitte.