Wer erinnert sich noch an Sabrina Setlur als erfolgreiche Rapperin? Und wer erinnert sich an ihren Song "Nur mir" aus dem Jahre 1997? Wer beide Fragen gewissenhaft mit "Ja" beantworten kann – nicht schlecht. Das Bundesverfassungsgericht hat nun fast 20 Jahre später über eine Verfassungsbeschwerde entschieden, die Moses P. als Produzent des Songs eingereicht hatte.
Am Dienstag, den 31. Mai 2016 wurde in Karlsruhe ein Urteil gefällt, das auch in der hiesigen Raplandschaft für Aufsehen sorgte. Falk Schacht, verschiedene Magazine und so ziemlich jedes große HipHop Medium (darunter auch laut.de und hiphop.de, die jedoch anscheinend verfassungsrechtliche Fragen von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) entscheiden lassen) berichteten. Doch warum ist diese Entscheidung so wichtig für HipHop insgesamt und wodurch wurde sie überhaupt ausgelöst?
Angefangen hatte alles mit einem Rechtsstreit zwischen Kraftwerk und Moses Pelham – letzterer hatte Verfassungsbeschwerde eingereicht, die vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hatte (BVerfG v. 31.05.2016, Az. 1 BvR 1585/13), welches den Fall mit der Bemerkung, dass der Kunstfreiheit nicht ausreichend Rechnung getragen worden sei, zurück an den Bundesgerichtshof verwies.
Moses Pelham hat damit einen wichtigen Sieg in einem Streit errungen, der seit weit über zehn Jahren zwischen Kraftwerk und dem HipHop-Urgestein herrscht. Ihm wurde vorgeworfen, mit dem Sampling von zwei Sekunden aus dem Stück "Metall auf Metall", das die Band 1977 eingespielt hatte, auf dem Beat zu "Nur mir" verschiedene Rechte der Band Kraftwerk verletzt zu haben. Nachdem das Landgericht Hamburg (2004), das OLG Hamburg (2006), der BGH (2008), erneut das OLG Hamburg (2011) und noch einmal der BGH (2012) alle zugunsten von Kraftwerk und deren Tonträgerherstellerrechte entschieden haben, ist nun vor allem die von den vorigen Entscheidungen abweichende Begründung des BVerfG interessant, die auch für weitere Abwägungen zwischen Kunstfreiheit und Eigentum in Zukunft maßgeblich sein könnte: Basierend auf eingeholten Stellungnahmen entstehe dem Tonträgerhersteller (hier Kraftwerk) durch das in diesem Falle sehr kurze Sampling kein wirtschaftlicher Schaden und somit keine Beeinträchtigung des Eigentums – warum also dürfe ein Produzent dies nicht betreiben?
Speziell für Rap in Deutschland ist dies eine wichtige Entscheidung. Das Sampling stellt, wie Ihr alle wisst, immer noch eine der wichtigsten Säulen beim Produzieren von Beats dar und ist daher einer schwierigen Frage der Grundrechtsabwägung ausgesetzt. Inwieweit darf ein Musikproduzent die Sounds anderer Musiker für seine eigene Musik verwenden, ohne dass die Kunstfreiheit zu stark in das Eigentum eingreift? Das Bundesverfassungsgericht hat nun einen für HipHop entscheidenden Maßstab geliefert: Entsteht dem Urheber kein Schaden, wurde sein Eigentum nicht beeinträchtigt, in diesem Falle also aufgrund der Kürze des übernommenen Musikausschnitts und des Abstands zum ursprünglichen Werk. Doch nicht nur HipHop hat dadurch an Boden gewonnen. Auch Laien und beispielsweise Garagenbands oder YouTube-Künstler haben Raum bekommen und etwas mehr rechtlichen Schutz erhalten. Cro sagte einmal, wenn er alles verwenden dürfte, was er wollte, würde seine Musik vollkommen anders aussehen, als sie zurzeit ist; auch viele andere Produzenten werden diese Ansicht teilen – die Frage, die mit dem rechtlichen Schutz von Sampling und gleichzeitig Eigentum einhergeht, ist also für einen Großteil der HipHop-Welt von entscheidender Bedeutung. Doch die Entscheidung liefert nicht nur einen Maßstab zur Abwägung, sondern leistet auch dem Produzieren von Beats einen längst überfälligen Dienst: Die Anerkennung des Samplens als Kunst. Das stundenlange Suchen nach dem passenden Sound, das Auseinandernehmen einzelner Abschnitte, das präzise Verarbeiten zu einem völlig neuen Werk und das letztliche Einarbeiten in einen neuen Kontext – es ist eben kein bloßes Handwerk. Es ist Kunst.
Dennoch ist es unerlässlich, die andere Perspektive, nämlich die von Kraftwerk, nicht zu missachten. Schließlich wurde ohne deren Erlaubnis ein Stück Eigentum von ihnen übernommen und verwendet. Und außerdem: Wer erinnert sich nicht an die Verurteilung Bushidos zur Zahlung von Schadensersatz an die französische Band Dark Sanctuary, weil er unerlaubt Teile von deren Stücken verwendet hatte? In dieser Hinsicht kann die Entscheidung des BVerfG negative Folgen bedeuten: Inwieweit kann ich mir meines musikalischen Eigentums noch sicher sein? Ab wann entsteht überhaupt ein "wirtschaftlicher Schaden"? Wie viel dürfen andere von mir verwenden, ohne dass ich geschützt werde? Entsteht einem Rapper ein Schaden, wenn ich den gesamten Text einer seiner Strophen einrappe und als mein eigenes Werk verkaufe? Vermutlich.
Natürlich ist es von Bedeutung, diese Fragen zu stellen. Dennoch bedeutet diese Entscheidung weder einen Dammbruch noch eine Enteignung des künstlerischen Eigentums aller Musiker. Ein kleiner Crashkurs zum Thema Grundrechte lässt sich dabei leider nicht vermeiden: In jedes Grundrecht, mit Ausnahme der Menschenwürde, darf eingegriffen werden. Dieser Eingriff muss gerechtfertigt sein und folgt meist aus einer Abwägung der Grundrechte gegeneinander. Der Satz "Kunst (oder Satire) darf alles" ist natürlich Quatsch. Natürlich hat sie Gewicht. Aber beispielsweise eine öffentliche Tötung von Welpen zum Zwecke der Kunst (Quelle)? Oder die Darstellung einer realen Person als prinzipienloser und rein karriereorientierter Unterstützer der Nationalsozialisten in Romanform (Quelle)? Alle Grundrechte müssen letztlich gegeneinander abgewogen werden, schließlich leben wir in einer Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen. So auch in diesem Fall. Die Kunstfreiheit des Moses P. gegen das Eigentum von Kraftwerk. Beides würde wohl so ziemlich jeder von uns als wichtige Rechte einer jeden Person bezeichnen.
Egal, welches Urteil gefällt würde, in beiden Fällen würde in ein Grundrecht der jeweiligen Partei eingegriffen: Bekäme Moses P. Recht, würde damit in das Eigentum von Kraftwerk eingegriffen. Andersherum würde in die Kunstfreiheit von Moses P. eingegriffen werden. Die Frage ist letztlich, unter Abwägung der verschiedenen Interessen, welcher Eingriff schwerer wöge, welcher angemessen wäre, welcher besser gerechtfertigt werden könnte. Und so war es wohl bei Bushido: Vor allem die künstlerische Verarbeitung und das Ausmaß des verwendeten Parts ist von Bedeutung. Während Bushido wohl das Loopen fremder Musik in größerem Maße betrieben hatte, handelte es sich bei dem Part von Kraftwerk lediglich um zwei Sekunden und eine ausführlichere Einarbeitung in einen völlig neuen Kontext.
Das BVerfG hat in diesem Falle implizit geäußert, dass in das Eigentum von Kraftwerk aufgrund eines fehlenden Schadens wenig oder gar überhaupt nicht eingegriffen wurde, in die Kunstfreiheit von Moses P. und zahlreichen anderen Künstlern würde jedoch relativ stark eingegriffen. Doch diese Abwägung muss stets neu vorgenommen werden. Wohl so ziemlich jede unerlaubte Verwendung fremden Eigentums ist weiterhin verboten (siehe Bushido ) und nicht durch die Kunstfreiheit geschützt. Einzig und allein das Samplen kleinster Musikausschnitte (auf jeden Fall von zwei Sekunden Länge) ohne Schaden für die ursprünglichen Tonträgerhersteller ist (vorerst) rechtlich gedeckt – ein Sieg also auf ganzer Linie für Rap und Musik in Deutschland insgesamt.
(Max)