Um den Ruhepuls zu bewahren und allgemein niedrigeres Frustrationsniveau zu gewährleisten, ist eine selektive Wahrnehmung der Deutschraplandschaft dringend anzuraten. Auch mit Seyed, dem ersten Signing von Kollegahs neuinitiiertem Label "Alpha Music", verfuhr ich nach der ersten Auskopplung "MP5", auf dem sich auch sein Patron die Ehre gab, nach dieser Schmerzvermeidungsroutine. Zu sehr erweckte der Wiesbadener den Eindruck einer lieblosen Skizzenzeichnung aus dem Atelier des ehemaligen Malwettberwerbskönigs. Allerdings wirkte sein Beta-Typ, sein "Majoe 2.0", ähnlich unausgegoren wie das Original, denn neben dem prototypischen Look sparte man offensichtlich an künstlerischer Eigenständigkeit. Bedauerlicherweise war meine Vernunft schnell aufgebraucht und da ich zudem über eine gewisse masochistische Ader zu verfügen scheine, sichtete ich in der Folge jede Veröffentlichung des Hessen (Biblische Zahl einfügen)-mal. Neben Wut, dass eine solche Chance an Seyed verschwendet wird und nicht an einen Rapper, der diese Bezeichnung auch verdient, machte mich die Promophase regelrecht traurig. Auskopplungen bis zum Eksodus (Schreibweise beabsichtigt), dazu mannigfaltige Freetracks und dabei stets als Feature-Gast in vorderster Front: Kollegah. Der Boss, der King, jetzt der Macher, vertraut seinem Erzeugnis offensichtlich in keiner Weise, sondern nutzt sein geschnitztes Zepter wie Teppichklopfer, mit dem er die letzten Ersparnisse aus den Kopfkissen seiner Anhängerschaft prügelt. Nicht ohne Grund ist dem Boxset zu "Engel mit der AK" eine EP mit Kollegah beigelegt. Dabei wirkt auch der selbsternannte Zuhälterrapper einmal mehr wie eine Karikatur seiner Selbst und gewinnt das Bad-Bars-Battle gegen Farid Bang und Seyed mit Lines wie "Der Boss ist wie ein Igel, wenn du ihm in den Rücken fällst, sticht er dich" ("Schlangen") spielend.
Denn sind wir ehrlich, der Käuferanteil, welcher das Debüt des 21-Jährigen und kein Werk seines Label-CEOs besitzt, sollte kleiner sein als der Bestand von Schneeleoparden in freier Wildbahn (an dieser Stelle können Sie spenden). Gegen Seyed wirkt Musils "Mann ohne Eigenschaften" wie ein interessanter Typ, den man unbedingt mal kennen lernen möchte und bevor das Image als authentisch aufgefasst werden könnte, rappt SSIO den dritten Part aus "Lockige Brusthaare". Wer jeden Raptext als authentische Tatsachenschilderung betrachtet, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen. Doch während etwa bei Bushidos "Sonny Black" durch bewusste Überzeichnung ein gewisses Augenzwinkern nicht geleugnet werden kann, weckt der pointenlose Vortrag des Alphamännchens meinen "Inneren Fler". Textauszüge gefällig:
Wiesbaden – meine Stadt!/
Da, wo halbstarke Kids Krawall machen, bis die Cops kommen, und es täglich Gewalttaten gibt/
Da, wo die Mädchen Blowjobs geben für ein paar Cokerocks/
Licht verirrt sich nicht in die Schatten von diesen Wohnblocks/
Hier kommst du nur weiter, wenn du dich täglich hochboxt/
Hart und stabil bleibst und keine Miene zeigst, so wie mit Botox/
(Seyed auf "Rap oder Einzelhaft")
Die Frage, ob es in Deutschlands Ghettos gibt und die anschließende Problematik, ob Straßenrap authentisch sein kann, ist so alt wie das Subgenre selbst, in diesem Zusammenhang jedoch nur peripher interessant. Denn in welchen Fantasiewelten sich Seyed auch herumtreiben mag, Wiesbaden kann er nicht gemeint haben. "Was zur Hölle ist die East Side Baltimore, wer ist dieser Stringer Bell? Ich bin Seyed aus Wiesbaden", denkt unser Held kurz in seinen tiefsten Träumen und wird in der beschaulichen hessischen Landeshauptstadt wach. Da er im Kurier gelesen hat, dass seine Heimatstadt auf dem drittletzten Platz der Kriminalitätsstatistik liegt, ist der Deutsch-Iraner heute schlecht gelaunt: "Wir sind doch so schlimme Jungs", quengelt der Halbstarke und pudert sich die Nase, dass sein Gesicht beim Videodreh nicht so glänzt. Wohnblocks sieht man hier wenige und die gutrestaurierten Altbauten machen es fast unmöglich, eine bezahlbare Mietwohnung zu finden. Besonders Rentner schätzen die idyllische Rheinstadt, nicht zuletzt wegen des angrenzenden Taunus mit Kurorten wie Bad Schwalbach. "Bitch, ich war noch nie beim Juwelier ohne Sturmmaske auf", rappt Seyed auf "MP5". Mach dich nicht lächerlich Junge, du drückst dir an den Tiffanys die Nase platt wie Holly Golightly und die Skimaske trägst du manchmal in der Brita-Arena bei Spielen vom SV Wehen-Wiesbaden.
Deshalb war die Wut so groß, Schlägerei'n im U-Bahnhof/
Mama hat mich gut erzogen/
Doch außer ihr gab ich niemandem Respekt, außer meinem Fußballcoach/
Ich leb' in Isolationshaft in der Enge der Großstadt/
(Seyed auf "Koffer voller Cash")
Seyed ist so ein brutaler Typ, dass er sogar nach Frankfurt fährt, um sich in einem U-Bahnhof zu prügeln, denn in seiner Heimatstadt wird er einen solchen nicht finden. Aber solche Ungenauigkeiten kann man wohl für eine weitere Reimsilbe in Kauf nehmen oder Kollegah hat einfach vergessen, die Lines aus seinem alten Textbuch, die er wegen mangelnder arabischer Abstammung nicht verwenden konnte, anzupassen. Auch wenn Chef Toni mit Seyed eine fade Retorte, eine rappende Semmel aus fertiger Backmischung kredenzt hat, wird eine hohe Platzierung in den Charts nur reine Formsache sein und da man ob des Karmas Willen niemanden Schlechtes wünschen sollte, hoffe ich, dass Ihr alle für die Schneeleoparden spendet, um meinen Counter wieder auszugleichen (Link findet Ihr im Text).
Lennart Gerhardt