Retrogott & Hulk Hodn – Sezession!


  • 01. Intro
    02. Reingeschäftlich
    03. Serviervorschlag
    04. Der Kampf mit der Angst
    05. Rezepte
    06. Lebemann
    07. Zauberbohne
    08. Sezession!
    09. Die Bedrohung
    10. Moderner Schmutz
    11. Geldsucht
    12. Aufhänger
    13. Doin' here
    14. Laktosefrei
    15. Outro


    Wo kommt das denn her? Völlig unbemerkt von der Außenwelt steht plötzlich die vierte Langspiel-Kooperation von Retrogott und Hulk Hodn in der Pipeline, ausschließlich feilgeboten bei den Konzertstopps der "Sezession!"-Tour. Die dreijährige Wartezeit der Oldschool-Jünger überbrückten die Tausendsassa mit Projekten außerhalb der Wohlfühl-Oase; den für den Rapper typischen Flavour hat er auch nicht bei der Zusammenarbeit mit Hubert Daviz, durch welche die "Kokain Airlines"-EP zustande kam, sogar eine LP, "Auf ein Neues" veröffentlichte man als Terzett mit Hazenberg. Wenn sich also ein Fatoni als "Deutschraps Benjamin Button" betitelt, ist der Retrogott gewissermaßen "Deutschraps Dorian Gray". Kaum ein deutscher Rapper schafft es, seinen künstlerischen Weg derart stringent zu beschreiten wie der Kölner und samt ewig juvenilen Äußeren die gewohnte Fassade zu wahren. Doch nutzt sich die Konstellation mit seinem Produzenten-Kollegen Hulk Hodn allmählich ab und Tristesse des Alltäglichen hält Einzug oder bleibt das Gespann die Vertonung eines zeitlosen Klassikers?


    Deutscher Rap ist gleichzeitig dumm und verkopft/
    Die Musikindustrie hat ihr Unkraut umgetopft/
    Ich breche deinem A&R den grünen Daumen/
    Er sollte kein Schwimmbad in der Wüste bauen/

    (Retrogott auf "Rezepte")


    Während der Boxen-Wahnsinn in nie dagewesenem Irrsinn tobt und Rapper ihre Körperflüssigkeiten als Album-Goodies bereithalten, zeigen sich die entbs-Künstler als gallisches Dorf und bringen ihr Album nur bei Live-Gigs unter die Leute. Diese Sezession von der Deutschrap-Welt und das Berufen auf die eigene Identität ist logischerweise auch auf der Platte zu spüren. Die kompromisslosen Battle-Elemente wurden zwar gewiss schon seit "Der Stoff aus dem Regenschirme sind" beschnitten, doch auch im Jahre 2016 kann sich der gemeine Wack MC nicht in Sicherheit wiegen, wenn der Kölner das Mic in die Hand nimmt. Neben dem allgemeinen Ausverkauf bekommt auf "Reingeschäftlich" besonders die "Neo-BoomBap-Generation" ihr Fett weg, die dem Platzhirsch hier nicht das Wasser reichen kann. Dem "Dissen aus Prinzip" ("Und rappe in der Zukunft immer noch darüber, dass alle noch wacker sind als früher" ("Reingeschäftlich")) fehlt hier allerdings im Vergleich zu vorherigen Werken der Nachdruck, es erweckt den Eindruck, als hätte man es inzwischen mit dem gütigen Gott des Neuen Testaments und nicht mehr mit der rachsüchtigeren alttestamentarischen Version zu tun.


    Musikalisch zeigt das Produzenten-Duo gewohnte Qualitäten: Zur Akquise der Sample-Beats und von eingescratchen Track-Fragmenten wurden wieder die Plattenteller zum Glühen gebracht und ein warmer jazziger Sound erzeugt, der sich vom Vorgänger etwa durch das Aufsparen der "Quetschkommode" unterscheidet. Das klangliche Gesamtbild definiert sich hier vor allem durch Dinge, die es nicht gibt: Keine Synthie-Türme, keine Hooks sowie ein Verzicht auf Feature-Gäste und effekthascherische Reimketten. Es geht vor allem – und das ist jederzeit spürbar – um die klare Abgrenzung von einer Szene, die einen trocken-faden Kuchen immer nach dem gleichen "Rezept" backt. Der gleichnamige Track mit Lebensmittelmetaphern gehört auch zu den besten Albumtiteln, da durch die stimmige Allegorie ein Rahmen für die häufig zu ausschweifenden Gedanken Kurts gebildet wird. Wie gewohnt beschränkt sich der Künstler hier nicht nur auf einen Rap-Kontext, sondern bietet auch darüber hinaus gesellschaftspolitische Interpretationsmöglichkeiten. In dieser Mittelphase hat die LP ihren zweifelsohne stärksten Abschnitt, aus dem der mitreißende "Lebemannn" nochmal deutlich herausragt. Der Zeremonienmeister "droppt Knowledge": "Die größte Massenvernichtungswaffe ist die Masse selbst" und lässt sich sogar dazu hinreißen, einen Refrain oder zumindest ein repetitives Element einzufügen, das beim Gedankenschwall des Retrogotts hier durchaus gut aufgehoben ist. Nach dem ebenfalls guten Titeltrack schwellt die Formkurve der Nostalgiker, die gerne in der guten alten Zeit (als Leerzeichen noch nicht erfunden waren) schwelgen, durchaus. Zwar sind zweifellos grandiose Wortspiele und kluge Schlussfolgerungen zu finden, doch im Assoziationsdschungel verliert man bisweilen etwas den Durchblick. Bemerkenswert bleibt jedoch über die gewisse Spieldauer die musikalische Gestaltung, die auch als Instrumental-Scheibe keine schlechte Figur machen würde.


    Geld gibt mir die Kraft, die mich selbstsicherer macht/
    Und befreit mich von Last, die ich nur durch Geld hab'/

    (Retrogott auf "Lebemann")


    Fazit:
    "Sezession!" ist gewiss nicht das beste Release des Duos, das mich persönlich auch schon mit "Fresh und Umbenannt" nicht völlig überzeugen konnte. Ein einfacher und dennoch passender Weg für eine Review wäre wohl gewesen, eine Rezension des Vorwerkes mit den passenden Tracktiteln und Zitaten zu versehen. Denn ähnlich wie der vorherigen Platte krankt es für mich an der inhaltlichen Kohärenz der einzelnen Tracks. Gewiss kann man die assoziativen Passagen als eine Hauptqualität bezeichnen, doch auch ausformulierte Gedanken haben durchaus etwas Reizvolles. So bleibt es textlich letztendlich Stückwerk allerdings mit exzellenten Beobachtungen, Lines und Wortspielen versehen, die das Album in der Gesamtheit doch deutlich über die Rap-Standardkost stellen. Essenziell hierfür ist natürlich auch die Symbiose mit dem Beat; der größten Stärke des Duos. Denn anders als ein bei einem Zirkuspferd, das sich den ganzen Tag im Loop dreht, versucht man nicht die Produktion um jeden Preis zu domestizieren, sondern gewährt den jazzigen Klängen gewohnte Freiräume. Weder Lasso noch Lötkolben nutzt der Retrogott, um seinen Stempel aufzudrücken, er setzt sich mit dem Beat antiautoritär auseinander und verschmilzt deshalb mit ihm zur Einheit.


    Lennart Gerhardt


    [redbew]2050[/redbew]


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  • Deutschraps Dorian Gray. Perfekt. Wie kann man nur über so lange Zeit so dope bleiben.

    "Und, was darf's für Sie sein?" [B]Äähh... ich nehm das SM58![/B] [FONT=Comic Sans MS][size=14] SHEESH DU SCHWANZ![/SIZE][/FONT]
  • Die Jungs mögen Kommerz nicht so gern wenn ich mich recht entsinne. Gibts das Ding nur als Hardware auf der Tour oder wie läuft das?

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