Keno – Paradajz Lost


  • 01. Backpacker
    02. Über Den Wolken
    03. Der See
    04. Pij
    05. Wie Sie Sind
    06. Geschlossene Gesellschaft
    07. Interlude
    08. Paradajz Lost
    09. Kreislauf
    10. Per Anhalter


    Mit der Moop Mama Marschkapelle konnte sich Keno in den vergangen Jahren besonders einem großen Live-Publikum vorstellen, sodass kaum ein Festivalplakat nicht vom Schriftzug der Münchner geziert wurde. Wer viel spielt, kommt naturgemäß viel rum – eine Erfahrung, die der ehemalige Creme Fresh-MC im Vorfeld seines ersten Solo-Langspielers noch intensivierte. Besonders auf den Bosporus verschlug es den Tausendsassa, wohl wissend, dass ein gebührender räumlicher Abstand den Blick auf das Betrachtete schärfen kann. Das zeigt sich auch in "Paradajz Lost" welches zwischen realistisch-pessimistischer Gegenwartsbeschreibung und dystopischen Überlegungen schwankt. Auch dem Soundbild merkt man die Beeinflussungen von orientalischen Klängen an, der Anadolu-Rock der 60er dient als Sample-Grundlage für sämtliche Tracks, was einen einheitlichen Klang verleihen soll. Ob dies die Stimmigkeit fördert oder zur Monotonie führt wird ebenso wie die inhaltliche Kohärenz im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.


    "Nix planen keine Drecks Doodles/
    Mal wieder nach dem Weg fragen, keine maps googeln/
    Kein gewünschter Gesprächspartner, keine Netzsuche/
    Echtes Vogelgezwitscher keine digitalen Weckrufe/
    "
    (Keno auf "Backpacker")


    Schon die Playlist erregt wegen ihres spärlichen Umfangs Aufmerksamkeit, unter den zehn Anspielstationen sind sogar noch ein Zwischenspiel und ein Skit. Direkt rein ins Geschehen geht es mit dem "Backpacker", der sich nach Saiteninstrument-Zupfen energisch präsentiert: Der Beat klingt nach Studioband und findet mit Keno einen Veredler. In diesem Intro erläutert er die Gründe seiner Rucksack-Tour, ein Entfliehen aus dem digitalen Hamsterrad, welches die Wahrnehmung getrübt hat und die damit verbundene Selbstfindung. In "Über den Wolken" betrachtet der MC die Szenerie aus der Vogelperspektive und erblickt Straßen und quadratisch angeordnete Felder. Die Entstehung dieser Plangesellschaft resümiert der Weltreisende in seiner individuellen Interpretation der Schöpfungstage und geht noch einen Schritt weiter, indem er den seiner Meinung nach unvermeidlichen Tag des Jüngsten Gerichts vorhersagt.


    Deutlich ruhiger wird es in dem Track "Der See", in dessen erstem Part Keno einen Locus amoenus berappt, untermalt von Wellenklängen, welche die Idylle noch bestärken. Doch auch diese scheinbar friedlich daliegende Wasserfläche hat mit Seeschlachten in der Vergangenheit und Umweltzerstörung immer wieder unter menschlichen Gräueltaten leiden müssen und so zeigt der kritische Geist im zweiten Part die Kehrseite der Medaille. In "Wie sie sind" verlässt der Rapper seinen Deckmantel der Allegorie und widmet sich der eigenen Wahrnehmung, die des Öfteren lediglich durch ein Zwischenmedium stattfinden. "Als müssten wir Beweise sammeln, dass uns Dinge passieren", so beschreibt der Weltbürger die Sucht, Ereignisse durch eine Linse zu betrachten und um des Konservierens Willen zu konservieren.


    "Digitale Freunde analoger Käse/
    Felder und Weiden voll wandelnder Pasta Bolognese/
    Der Hunger ist uns ein Unbekannter/
    Homo Sapiens Sapiens ein Schnäppchenjäger und Punktesammler/
    "
    (Keno auf "Paradajz Lost")


    Mit "Geschlossene Gesellschaft" legt Keno einen weiteren Storyteller nach, in dem er den Personalausweis als eine Art Goldenes Ticket in die Schokoladenfabrik beschreibt, während weniger Glückliche von Barrieren eingekreist sind. Auch der Lebenslauf, der ohne Lücken zu sein hat, wird kritisch unter die Lupe genommen. Das Bild der tanzende Einkaufstüte, welches Keno im Titeltrack "Paradajz Lost" zeichnet, erinnert an den Sam-Mendes-Film American Beauty, in dem die von Wes Bentley gespielte Rolle den gleichen Gegenstand ästhetisiert. Der Rapper geht hier über eine beschreibende Ebene hinaus und schafft den Bogen zur fundierten Kritik an der Wegwerfgesellschaft. Dieser Aufbau vom Kleinen ins Große und der Fakt, dass man mit Lyrics über 16 Bars gebannt der Geschichte einer Plastiktüte lauscht, sprechen für die erzählerische Extraklasse des Interpreten.


    Fazit:
    Es gibt eigentlich nichts Gravierendes an "Paradajz Lost" auszusetzen, das nicht nur durch eine Produktion wie aus einem Guss, sondern auch durch inhaltliche Stringenz besticht. Dass es sich bei dem Tonträger um ein Erstlingswerk handelt, ist keineswegs zu hören. Zwar kommt der Selbstfindung ein Bärenanteil zu, doch musikalisch scheint Keno eine klare Vision gehabt zu haben. Was mir persönlich am besten gefällt, ist die angemessene Spielzeit der Platte, die ein kompaktes Gesamtbild zur Folge hat. Kein Song, den man als Füllmaterial erkennen kann, kein semi-motivierter Feature-Gast, der das Niveau verwässert oder sich nicht stimmig einfügt. "Paradajz Lost" ist ein Album, das nicht nur durch die interessante Instrumentierung, dem Anadolu-Pop, sondern auf textlicher Ebene unkonventionelle Wege geht. Über Gemeinschauplätze hinaus übt der herausragende Geschichtenerzähler Kritik an Gesellschaftsstrukturen und Zeitgeist. Eine Platte wie gemacht für Genre-Hörer, die sich bisweilen ärgern, dass politische Rap-Tracks häufig an der Oberfläche kratzen und eine naive Kopf-Hoch-Mentalität predigen.



    (Lennart Gerhardt)


    [redbew]1956[/redbew]


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  • album ist wirklich zu empfehlen! Da hat der author dieser rezi absolut recht mit seiner Bewertung!

    +They always expect the Monster. And It's always just some bloke.
    There ain't no monsters. There's no great saving grace.
    No us and them. There's just us. - Hellblazer+

  • sehr dopes Album. Keno sicher einer der textlich besten MCs mit wirklich runden Tracks.
    N Feature mit Fatoni hätte aber auch noch gut draufgepasst

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