Zugezogen Maskulin – Alles brennt


  • 01. Alles brennt
    02. Ayahuasca
    03. Plattenbau O.S.T.
    04. Oranienplatz
    05. Grauweißer Rauch
    06. Endlich wieder Krieg
    07. Guccibauch
    08. Oi!
    09. Agenturensohn
    10. Monte Cruz
    11. Vatermord
    12. Schiffbruch


    Durch die Vielzahl an allein deutschen HipHop-Künstlern, die dadurch bedingte größere Auswahl der Konsumenten und die Möglichkeiten, verschiedenste Musiker anzuhören, ist der Wettbewerb unter diesen selbst logischerweise verschärft worden. Musste man sich vor vielleicht 15 Jahren seinen Platz in der Szene noch in einem Stadtteil, höchstens seiner Region, erarbeiten, kann man sich heute nur noch etablieren, wenn man im nationalen, stellenweise sogar internationalen Wettbewerb konkurrieren kann. Fragt man nun also nach einem "guten Künstler", so fragt man nach Besonderheiten. In den letzten Wochen hat sich um Zugezogen Maskulin eine Art stiller Hype breitgemacht: Indikator dieses Hypes waren nicht Klicks auf irgendwelche Videos und auch die Verkaufszahlen werden keinen außergewöhnlichen kommerziellen Erfolg von "Alles brennt" vermitteln. Dennoch hat das Duo, bestehend aus Testo und grim104, in den deutschen HipHop-Medien und nicht zuletzt im Feuilleton eine Welle der positiven Kritik, oder zumindest des bedachten Respekts, ausgelöst, die der Band Anerkennung bis auf der höchsten Ebene einbrachte. Was genau macht dieses Gespann also so individuell, so besonders, dass sie einen festen Platz in diesem gigantischen deutschen HipHop-Kosmos und das Lob der Kritiker verdient hätten?


    "ZM Gang, unsere Double Cups sind Schierlingsbecher/
    Denn wir bringen euch das Feuer, ihr Höhlenrapper/
    "
    (Testo auf "Alles brennt")


    Dass sich Zugezogen Maskulin nicht durch außerordentliche Diskretion oder Schüchternheit einen Namen machen konnten, ist als Tatsache unabdinglich, wenn man diese Platte in ihrer inhaltlichen Gesamtheit betrachten möchte. Die thematische Vielfalt und gleichzeitig Konsequenz ist es nämlich, die "Alles brennt" in der Essenz ausmacht. Denkt man diesen Hang zur Provokation zu Ende, erscheint der Titeltrack als einziges logisches Ergebnis, der Text desselben wird geradezu zur Nuance. Obgleich dieser Rundumschlag gegen alle Oldschooler nur zu gut in die Grundtendenzen von Testo und grim104 passt, ist dessen Struktur dennoch bemerkenswert: Zeilen wie "Früher gab es Hitler, früher war es schlecht" (grim104) gesellen sich zur Bilderbuchpoesie, die ohne den äußerst passenden Kontext des Liedes nahezu jedem Hörer nur ein Schmunzeln entlocken würden: "Ihr wollt Rap so, wie er früher war? Doch diese Flügel sind zum Fliegen da." (Testo). Diese Mischung aus Eskalation, bildhafter Kritik und inhaltlicher Fundiertheit macht eben diesen Titelsong zum Spiegel des gesamten Langspielers selbst. In der Reflexion einzelner Lieder könnte man für die zwölf verschiedenen Texte zeitgleich zwölf verschiedene Reviews schreiben; allein deshalb, weil sich die Thematiken von Alltagsrassismus über städtische Einsamkeit bis hin zur grundsätzlichen Gegenüberstellung von Kapitalismus und Kommunismus erstrecken. Trotz dieser weitläufigen Auswahl, die die Band letztlich auf doch nur zwölf Musikstücken abgrast, treffen sowohl Testo als auch grim104 den Kritiker, die Szene und auch sonst jedwede angesprochene Person genau dort, wo es wehtut: In der Tiefe.


    "Beamer, Benz und Bentley – Lenin, Marx und Engels/
    Meine Nebenwidersprüche bringen mich grad in Bedrängnis/
    "
    (grim104 auf "Guccibauch")


    Politische Themen sind ein weiterer Knackpunkt von "Alles brennt". So werden in Titeln wie "Guccibauch" – eine Darstellung des Kapitalismus als irrational und herzlos und des Kommunismus als wenig verlockend, aber eigentlich richtig – oder "Agenturensohn" die eindeutig linken Tendenzen des Musikduos deutlich. Doch auch wenn man sich als Feind der kommunistischen Idee an diesen Stellen gern zu harscher Kritik an dem Gesamtwerk verführen lassen könnte: Von den Inhalten mag jeder halten, was er will; die Originalität und Schlagkraft, mit der die Band ihre Haltung präsentiert, ist ihnen nicht abzuerkennen. So nimmt grim104 auch sich selbst auf "Guccibauch" in die Mangel – er gibt sich als geplagt von inneren Widersprüchen zwischen ideologischer Theorie und gelebter Realität. Diese Ehrlichkeit mündet auf "Agenturensohn" in einen gar kompromisslosen Zynismus. So wird direkt nach perverser Unmenschlichkeit ("Völlige Ekstase, alle spritzen ab, als beim Bumfight der Blähbauch eines Obdachlosen platzt" – Testo) die Aufforderung zum Tanzen angestellt, was die angesprochene Treffsicherheit der Künstler nun von Szene und Kritikern auf jeden Hörer erweitert. Er selbst findet sich in einem Konflikt zwischen trauriger Ernsthaftigkeit und musikalischem Erlebnis. Denn auch die Soundauswahl von Zugezogen Maskulin treffen die Inhalte mit dem Nagel auf den Kopf.


    "Ein Hund ist ein Hund, weil er sich hinlegt und stirbt/
    Doch ein Mensch ist ein Mensch, weil er träumt und fantasiert/
    Er ist oversexed und underfucked/
    Denn das Gras ist immer grüner auf der andere Seite eines Tumblr-Blogs/
    "
    (grim104 auf "Schiffbruch")


    Zu der musikalischen Zweckmäßigkeit nämlich, die auf den politisch und gesellschaftlich kritischen Titeln durchaus ihre Berechtigung findet, zeigen Tracks wie "Schiffbruch", "Grauweißer Rauch" oder auch "Plattenbau O.S.T." die andere Seite des sonst so mit knallenden Bässen und drastischen Elektro-Samples geladenen Langspielers auf: Die Romantik der Zerstörung. Es erscheint fast schon fantastisch, gar himmlisch, wenn Testo den wohl am stärksten berührenden und zugleich treffenden Part des gesamten Albums auf "Grauweißer Rauch" rappt: "Ich mach kaputt, was mich kaputt macht – mich selber." Diese Entmystifizierung des Kiffens findet sich neben zerfallender Stadtkulisse und untypischem Jugendenthusiasmus (Plattenbau O.S.T.); selten konnte ein so kurzes Album dem Hörer eine so vielschichtige Reise bieten. Fast vergisst man dabei das fehlende musikalische Spektakel, den Fehlgriff "Monte Cruz", der inhaltlich schnell vergessen scheint und musikalisch trotz des Ausflugs in lateinamerikanische Elemente völlig an einem vorbeigeht. Genauso fehlt es "Ayahuasca" an eingängigen Zeilen, um der eigentlich sehr interessant angedachten Szenekritik Rückhalt zu verleihen. Zum Glück holt grim104 letztlich noch einmal jeden ab, er versenkt den Ball, locht ein, trifft es auf den Punkt, was auch immer:


    "'grim, sag mal bitte einen von deinen schlauen Sätzen'/
    Die Kritik an Hipstern kann die Hipster der Kritik nicht ersetzen/"
    (grim104 auf "Agenturensohn")


    Fazit:
    Genau so sieht es aus, wenn jeder Text, jeder Takt und jeder Ton zu einem einheitlichen Plädoyer werden. Eine derartige Konsequenz, die sich bis tief in die Instrumentierung zieht, beeindruckt nicht nur mit einer inhaltlich geraden Linie, die dem Hörer quasi auf dem Silbertablett serviert wird, sondern auch durch textliche Tiefe, mit der die Perspektiven der Band auf verschiedenste Art und Weise angegangen und vor allem respektvoll gegenüber allen Themen ausgeführt werden. Von dieser leicht egalitären, alternativen Position mag man halten, was man will – nahezu jede ihrer Aussagen präsentiert das Duo auf eine musikalisch ansprechende und textlich originell wirkende Weise. Die feierliche Resonanz findet ihre Legitimation somit locker in der Darstellungsweise, doch die Aussagen der beiden Künstler geben sich in allen Perspektiven zu erkennen. Eine akribische Arbeit, die "Alles brennt" nicht nur zu einem Statement macht, das in seiner Konsequenz seinesgleichen sucht, sondern auch zu einem geistesgeschichtlich relevanten Werk der Kulturkritik und der Interpretation unserer Zeit. Testo und grim104 haben mit ihrem Erstlingswerk einen gehörigen Start hingelegt – das möge jemand in diesem Jahr erst einmal übertreffen.


    Max


    [redbew]1792[/redbew]


    Bewerte diese CD:
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    [indent]It ain't about who did it first, it's about who did it right.[/indent]

  • Beim ersten Hören habe ich mich schwer getan doch mittlerweile läuft das Album bei mir in Dauerschleife. Es gibt mit jedem hören neues zu entdecken. Liebe auf den zweiten Blick.

  • Leider passen mir die Electro-Samples nicht so :/
    Irgendwie nicht mein Stil - passend dann auch, dass "Plattenbau O.S.T." mein Lieblingstrack ist.


    Textlich ist es einfach herausragend gut.

  • Beim ersten mal hören (nebenher) einfach gedacht ist K.I.Z....


    Tu mir irgendwie immer schwer mich hier auf Albumlänge zu konzentrieren..
    Stark sind Sie ohne Frage.

    -before- Kool Savas . Rise Against . DJ Karotte . Diary of Dreams . Zeromancer . Unheilig. AndOne
    -2013- Rock im Park . Hip Hop Open . Openair Frauenfeld . Beyonce . Kool Savas . Gerard . OK Kid . Samy Deluxe
    -2014- Openair Frauenfeld . Spack Festival . Alligatoah . Fettes Brot . Sido . Casper . Freunde von Niemand . Maeckes .Chakuza . Kollegah
    -2015- 257ers . 11Freunde . Kool Savas . Edgar Wasser . Rock im Park . Selfmade Festival .

  • Großartiges Album


    Hab jetzt schon öfter gelesen, dass Monte Cruz nicht so gut ankommt, kann ich aber null verstehen. Mmn einer der besten Tracks des Albums


    Review ist gut, mir aber an manchen Stellen etwas zu überkompliziert formuliert mit unnötig langen Sätze

  • Super Album, der einzige Kritikpunkt meinerseits wäre, dass teilweise gar keine oder sehr schwache Reime verwendet werden. Wenn sie es schaffen würden das noch mit einzubauen ohne ihre Thematiken zu verfehlen, wären sie eindeutig ganz oben in Sachen Deutschrap. Aber auch so unglaublich gute Platte :thumbup:

  • Klasse Album und trotz der wenigen Lieder nicht zu kurz. Inhaltlich ist es nämlich ganz schön deftig, aber das ist genau richtig so. Nur das Spanier Lied hätte man lassen können oder ohne den Spanierakzent machen sollen, da dieser den Hörgenuss extrem stört.

  • Super Album, der einzige Kritikpunkt meinerseits wäre, dass teilweise gar keine oder sehr schwache Reime verwendet werden. Wenn sie es schaffen würden das noch mit einzubauen ohne ihre Thematiken zu verfehlen, wären sie eindeutig ganz oben in Sachen Deutschrap. Aber auch so unglaublich gute Platte :thumbup:


    Sehe ich auch so. Auch wenn man hier gut auf die Reime verzichten kann wären sie mit guten Reimen inhaltlich ein Teil der deutschen Elite.

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