01. Sierra
02. Whatsapp
03. Nirgendwer
04. Knicklicht
05. Amors Headshot
06. Ich sah ihn noch feat. Prinz Pi
07. Welle
08. 20.000 Rosen
09. Splittermeer
10. Strom feat. RAF Camora
11. XO
12. Signal
13. Mobile
14. Gift
15. 540 km
16. Kidd
Nicht viele Künstler schaffen mit ihren ersten Veröffentlichungen den Sprung in die Charts. Doch der Emdener Jungrapper Sierra Kidd landete mit seiner EP "Kopfvilla" 2013 im Alter von nur 16 Jahren bereits auf Platz 43 der Single-Charts. Ein Jahr später will er nachlegen und präsentiert, zwei Monate vor der Volljährigkeit, sein Debütalbum "Nirgendwer". Mit Platz sechs in den LP-Charts kann das Vorhaben als geglückt angesehen werden. Doch ist dieser Erfolg auf die Qualität der Tracks von "Sierra" bis "Kidd" zurückzuführen oder beeindruckt am Ende nur das junge Alter des Künstlers neben den gestandenen Featuregästen Prinz Pi und RAF Camora?
Schon mit dem ersten Track gibt Manuel Jungclaussen die thematische Richtung auf seinem Debüt an – Probleme des Jugendalters bilden den Schwerpunkt. Sierra Kidd legt Wert darauf, die depressiven Episoden dieser Zeit bis hin zu Suizidgedanken detailgetreu und authentisch zu transportieren. Scheinbar keine große Schwierigkeit für den 17-Jährigen, der nicht nur nah an der Zielgruppe, sondern genau genommen Teil derselben ist. Ein klarer Pluspunkt für den Teenager. Wo fehlende Realness gerne kritisiert wird, lebt der Jungspund der Szene vor, wie man Texte aus dem Leben schreibt. Selbst der autobiografische Einfluss lässt nicht lange auf sich warten:
"Und alle Fragen: 'Was ist los?' Man, ich guck' nicht traurig, ich bin so/
Mein Lächeln versteckt hinterm PIN-Code/"
(Sierra Kidd auf "Sierra")
Einige Magazine ließen bereits Vergleiche zwischen Sierra Kidd und dem Stuttgarter Cro laut werden – und tatsächlich lassen sich meiner Meinung nach Parallelen ziehen. Zwar kann man dem Emdener zu Gute halten, dass er dem "Raopper" mit der Pandamaske in Sachen thematischer Relevanz etwas voraus hat, denn Sierra Kidd hat ein wenig mehr zu bieten als Texte über das Verreisen in Juppi-Städte. Doch beide fallen durch starke Monotonie in der Themenwahl auf. Auch die Beats ähneln sich insofern, dass es sich durchweg um genre–atypische, poplastige Instrumente handelt. Statt um Leichtigkeit und dem Potenzial zu Sommerhits, war Labelchef RAF Camora als Produzent allerdings mehr um eine ruhige, melancholische Atmosphäre bemüht. Entstanden ist dabei ein warmer, breiter Sound, der trotz der vielen Details und dem technisch extrem hohen Anspruch nur wenig Abwechslung bietet. Positiv formuliert bleibt sich Sierra Kidd textlich seiner Linie treu und hat somit eine optimale Passung zwischen Rap und Beat gefunden. Prototypisch kann hier "Mobile" betrachtet werden. Sierra Kidd demonstriert hier sehr gelungen den schmalen Grat zwischen Melancholie und Depression. Pubertäre Lustlosigkeit, Resignation und Einsamkeit finden Eingang in die Lyrics und bringen ziemlich prägnant auf den Punkt, wie sich so mancher Jugendlicher in dieser Phase des Lebens fühlt.
"Geb' kein' Fick und bin gefühlskrank/
Weil ihr nie gefühlt habt, fehlt euch das Rückgrat, ihr Lügner/
Nicht mehr lang, bis ich durchdreh'/
Schon viel zu lange her, vergaß schon lang', wie man einschläft/"
(Sierra Kidd auf "Mobile")
Ist Sierra Kidd also der "Anti-Cro", wie er sich selbst gerne in diversen Interviews nennt? Nein. Vielmehr sucht der Debütant den Anschluss an diese Art Rapper, die in den letzten Jahren raptechnisch Neuland betreten haben und damit ungeheuer erfolgreich waren. Ernsthafte Diskussionen à la "Ist das noch HipHop?" wird Sierra Kidd mit diesem Album aber vermutlich nicht anregen. Außerdem behält sich Sierra Kidd ein großes Stück Individualität durch seinen ganz eigenen Flow, mit dem er sich deutlich von anderen abhebt. Zum Teil wird hierbei auch die Tendenz zum Gesang offenbart und neben dem dafür typischen Soundbild dürfen auch die passenden Phrasen wie "Ich hasse Konflikte in meiner Kopfvilla, sie wirbeln den Hausstaub auf" nicht fehlen. Was bei den einen als "bildhafte, lebendige Sprache" extrem gut ankommt, wirkt für die anderen wie inhaltsleere Worthülsen. Exemplarisch für eine der je nach Blickwinkel schlimmsten oder bildhaftesten Zeilen sei der Einstieg des ersten Parts auf "Signal" genannt:
"Wenn du sagst, dass du farbenblind bist/
Meinst du eigentlich, dass du für Farben blind bist/"
(Sierra Kidd auf "Signal")
Zwischendurch deutet sich Sierra Kidds technische Versiertheit immer mal wieder subtil an und es wird deutlich, dass nicht irgendwer sein Debüt mit "Nirgendwer" veröffentlicht hat. Exemplarisch lassen die zahlreichen Flowvariationen auf ein großes Talent schließen. Storytelling und Atmosphäre dominieren allerdings derart stark, dass Technikfetischisten lange nach Doubletimepassagen und Reimketten suchen müssen. Beachtet man allerdings das zarte Alter von siebzehn Jahren, ist nicht Hate, sondern Geduld angebracht. Denn wie sich der junge Künstler entwickeln wird, steht in den Sternen. Auf jeden Fall darf man auf ein vielversprechendes Talent gespannt sein.
Fazit:
Selbstverständlich gilt es die Tatsache anzuerkennen, dass Sierra Kidd zum Release seines Debüts noch nicht einmal die Volljährigkeit erreicht hat. Allerdings sollte im Angesicht eines F.R., der bei seinem Debütrelease noch auf den Stimmbruch wartete, das Alter kein großes Bewertungskriterium sein. Was bleibt also von "Nirgendwer", wenn man das Alter des Künstlers außer Acht lässt? Ein melancholisches, eher atypisches Rapalbum mit einem breiten Sound, der die Grenzen des genuinen Raps überschreitet, indem er sich vom standardisierten 16er wegbewegt, bewährte Reimschemen über den Haufen wirft und "Kick-Hat-Snare" aus dem Zentrum verbannt. Welche Entwicklung der Jungrapper vollziehen wird, bleibt erst einmal offen. Auf alle Fälle darf man auf ein vielversprechendes Talent gespannt sein.
(Claude Gable)
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