Meilensteine: Stieber Twins – Fenster zum Hof (1996)

  • Rap ist seit über 40 Jahren Teil der Musikgeschichte. Und obgleich diese Zahl im Vergleich zu anderen Musikstilen gering scheint, war die Entwicklung in hohem Maße dynamisch und einflussreich. Wie kaum eine andere Musikrichtung hat das Rap-Genre politische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen reflektiert und künstlerisch verarbeitet. Ein Verständnis der Vergangenheit ermöglicht daher in besonderem Maße eine differenzierte und facettenreiche Wahrnehmung der heutigen Szene. Im Rahmen dieser Kolumne versuchen wir eine kritische Würdigung herausragender Alben der Rap-Geschichte. Basierend auf einer subjektiven Auswahl, unter Berücksichtigung der Fachliteratur, präsentieren wir euch die unserer Meinung nach prägenden Alben deutschsprachiger Rapmusik. Die Auswahl umfasst Werke, deren Relevanz auf künstlerischer Qualität und/oder Innovation beruht, welche aber auch kommerziell wahrgenommen wurden. Gleichzeitig wurde auf eine Balance der verschiedenen Stilrichtungen geachtet, um einen möglichst ausgewogenen Blick auf die Entwicklung zu ermöglichen. Von jedem Künstler, den wir berücksichtigt haben, wurde jenes Werk ausgewählt, welches unserer Einschätzung nach zu einem Meilenstein geworden ist. Eines wird bei diesem knapp zwanzigjährigen Streifzug durch die Geschichte deutlich: Rap in Deutschland hat eine lehrreiche, kontroverse und sehr spannende Vergangenheit.




    Meilensteine: Stieber Twins – Fenster zum Hof (1996)



    01. Intro
    02. Fenster zum Hof
    03. Allein zu zweit Remixx
    04. Einmal Macco, zweimal Stieber
    feat. Cora E.
    05. Chris' Interlude
    06. Fahrenheit 72
    07. Doppelt nicht Stereo
    08. Mar'lude
    09. Fenster zum Hof Remixx
    10. Fünfzig-Fünf
    11. PEB get's physical
    12. Tausend MC's
    feat. Scopemann, Fast Forward, Aphroe, Tatwaffe, Curse
    13. Outro: The Key to all Forms of Rockin'


    Wenn eine Ära zu Ende geht, sei es auch schleichend und positiv, dann gibt es, wenn es gut läuft, diesen einen Moment, dieses eine Schlüsselerlebnis oder auch dieses eine Album, das alles Vorherige zusammenfasst, die destillierte Quintessenz zum Vorschein bringt und den krachenden Schlusspunkt setzt. "Fenster zum Hof" ist dieses Album. Veröffentlicht in einer Zeit, in der die Plattenfirmen nicht mehr umhinkonnten, Deutschrap nicht nur als Nischenphänomen wahrzunehmen, sondern als die aufstrebende Subkultur mit sowohl hohem Coolness- als auch Gelddruck-Faktor. Was die Stieber Twins zu diesem Punkt richtig machten und sie für immer in die Geschichtsbücher schrieb, war mehreren Kriterien geschuldet. Zum einen schrien sie nicht platt nach Ausverkauf, sondern erhoben den Zeigefinger in Richtung offensichtlicher Chartsanbiederung stets mit dem Hinweis auf die Geschichte der Kultur – und zum anderen wollten sie gar kein Album machen. Im Jahr 1996 schien es, als hätten alle Songs in der Hitparade einen Rap-Part. Nicht wie zu Anfang der Nullerjahre, als sich jedes R'n'B-Sternchen in Amiland einen Jadakiss und Konsorten auf den Konsenstrack der Jugenddiskotheken holte, sondern in und auf den schlimmsten Eurodance-Auswüchsen. Dabei wird das Wort Rap-Part schon arg strapaziert, wenn man sich nicht nur rückblickend über die Sprechgesangseinlagen von Nana, G's Incorporated und DJ Bobo erschrickt.


    Die Stiebers gehörten bereits zur damaligen Zeit zur unantastbaren und undissbaren Instanz und waren fast gleichberechtigt neben einen Torch zu stellen. Verankert in den frühesten Wurzeln, waren die Jungs wahrscheinlich bereits auf Jams, bevor es diese gab. Sie tanzten, sie sprühten und sie beatboxten und nahmen alles mit, was zur geliebten Kultur dazugehört. Die Frage der Realness erübrigt sich bei den Zwillingen somit schon mal im kleinsten Ansatz. Dass irgendwann das Produzieren und Rappen dazukam, war der schlüssige nächste Schritt. Dennoch sollte es bis 1995 dauern, bis man die Stimmen von Martin und Christian aka Mr. Mar und Luxus Chris aka Martin Jekyll und Christian Hyde aka ... auf einem Tonträger hören konnte. Eigentlich davon angetrieben, Songs zu schreiben und vereinzelt zu veröffentlichen, um diese auf Jams zu performen, bedurfte es des Anstoßes von Akim Walta (Gründer von MZEE Records, Anm. d. V.), die beiden dazu zu bringen, ein Album zu releasen. Etwas, das sie danach nicht mehr tun sollten.


    Dementsprechend ist die Stringenz des ersten und bis dato einzigen Album-Releases der beiden Zwillingsbrüder umso erstaunlicher, handelt es sich hierbei doch um ein Sammelsurium von oben erwähnten Jam-Tracks, Remixen, Interludes und perfekt integrierten Albumtracks. Die gefundene Formel benötigte keine Korrektur oder Änderung. Fresh ist fresh, Punkt. Wenn man rein die Instrumentale von "Fenster zum Hof" hört, konnte man weder damals, noch kann man heute an irgendeinem Punkt festmachen, dass dieses Album nicht aus den USA stammt. Die Beats rumpeln, jeder Cut ist in Perfektion gesetzt, jedes Jazz- und Funk-Sample genauso gediggt und gechoppt, wie es ein Premo oder ein Pete Rock getan hätten und taten. Wohl gemerkt zu ihren Glanzzeiten.


    "Und schreib' über mich, auf alte Klischees verzicht' ich/
    Schreib' Geschichte, schreib' Gedichte; fake MCs mach' ich zunichte/
    Die Beats aus Eiche, die Loops aus Fichte/
    Oft steh' ich im Wald und stemm' Gewichte/
    "
    (Christian Stieber auf "Allein zu zweit Remixx")


    Doch der Meilensteinstatus wäre wohl nichts ohne die Delivery. Hier geht es um die Kultur; die Kultur um der Kultur willen. Referenzen und Erklärungen, Belehrungen, was man von den falschen Gründen hält, und Exkurse darüber, wie Rap zu klingen hat, wenn man ihn im Blut hat und nicht nur die passende Kleidung zur Schau trägt. Der eigene Style ergibt sich auf "Fenster zum Hof" dabei nicht zwangsläufig durch Metaphern und innovative Flowabfahrten, sondern durch die Reduktion auf alles, was die goldene, in New York verortete Ära ausmacht. Aufgesogen und ins Stieber-Universum transformiert. Immer mit leichtem Dialekt, immer direkt ins Mic mit der größtmöglichen Rhythmik und beängstigend on Point. Die Features von Zulu-Queen Cora E., Scopeman, Fast Forward, Aphroe, Tatwaffe und Curse (mit seiner Premiere) passten dazu wie die Faust aufs Auge. Freunde, Familie, Gleichgesinnte.


    "Fenster zum Hof" war allerdings ein Grower und kein Instant-Klassiker. Die Verkaufszahlen waren weit vom Verdienst entfernt, als aber die dritte Welle des HipHop-Booms die Medien erreichte, war das Album lange Zeit vergriffen und nur für einen guten Fuffi auf den einschlägigen Secondhand-Seiten zu haben. Dem kollektiven Wunsch der vergangenheitsinteressierten Rap-Community mag es zu verdanken sein, dass es 2012 ein kurzfristiges Re-Release zum normalen Preis gab. Christian und Martin waren jedoch bereits weitergegangen. Hier noch eine 12'', da noch ein Beitrag. That's it. Während Christian nun als Architekt einem geregelten Tagewerk nachgeht, verdingt sich auch Martin als ehrenwerter Geschäftsmann. Das wiederum als Geschäftsführer des HipHop-Stores The Flame in Heidelberg. "You can take me out of HipHop, but you can't take HipHop out of me" oder so ähnlich und "age ain't nuthin' but a number" sowieso.


    "Ich weiß: Das, was ich weiß, das weiß ich/
    Rap ohne Weitsicht – uhh ... ich weiß nicht/
    "
    (Martin Stieber auf "Fenster zum Hof")


    Während die Elder Statesmen der Szene in den letzten Jahren wieder vermehrt die Bühnen der Nation beehrten und bewiesen, dass es immer noch nicht mehr braucht als zwei Turntables und, nun ja, zwei Mics, wuchs die Bewunderung innerhalb der Community nochmals an. Neben der Geburtstags-Jam zum Vierzigsten, auf der sich Kool Savas, Cora E., Jan Delay, Curse, Das Bo, Dendemann, Torch, Aphroe, Diamond D, Special T, Der Lange und die Soulsneakers blicken ließen, um einheitlich zu zeigen, was HipHop ist, verewigte Megaloh auf seinem Hit von 2013, "Dr. Cooper", die oben genannten Zeilen, die live von ganz vorne bis ganz hinten, von ganz jung bis ganz alt mitgebrüllt werden. Im März 2014 gaben sie etwas zurück und lieferten für den Remix von Megalohs Track den ersten Sechzehner seit vierzehn Jahren ab. Die Geschichte hat diese Helden nicht vergessen. Zurecht.



    (matthias)



    Meilensteine-Kolumne Teil 1: Die Fantastischen Vier – 4 gewinnt (1992)


    Meilensteine-Kolumne Teil 2: Various Artists – Alte Schule (1993)


    Meilensteine-Kolumne Teil 3: Rödelheim Hartreim Projekt – Direkt aus Rödelheim (1994)


    Meilensteine-Kolumne Teil 4: Advanced Chemistry – Advanced Chemistry (1995)


    Meilensteine-Kolumne: Kommentare/Diskussionen/Ideen zur Kolumne

  • Passt!

    Don’t give yourselves to these unnatural men - machine men with machine minds and machine hearts! You are not machines! You are not cattle! You are men!
    You have the love of humanity in your hearts! You don’t hate! Only the unloved hate - the unloved and the unnatural!

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