01. Intro
02. Delirium Tremens
03. Kapitalismus Jetzt
04. Gevatter
05. Kettenbrief
06. Heutzutage
07. Mutterliebe
08. Eskapaden
09. Papierflieger feat. Retrogott und Sylabil Spill
10. Tag ein Tag aus
11. Weltenbrand
12. Gottesfurcht
13. Lächel nochmal für mich feat. Flo Mega
14. Nur ein Stift
15. Notarzt
16. Fenster zur Welt
17. Sekt
18. Mojow Air
19. Zur Sonne zur Freiheit
Vor nunmehr fünf Jahren prophezeiten Hiob und Morlockk Dilemma resigniert und wütend die Apokalypse. Entrüsteter Pessimismus und ein gewisser Hang zur Misanthropie, gepaart mit dreckigen, düsteren Beats, zeichnete die damalige LP "Apokalypse Jetzt" aus. Damit trafen die beiden den Nerv so mancher Liebhaber und Kritiker, da ein solcher Sound in dieser Deutschrap-Epoche neu war. Posierte man damals doch viel lieber vorm geliehenen 7er BMW, präsentierte seine Weißgoldkette und zelebrierte seinen vermeintlichen Reichtum – erlangt durch Straßengeschäfte. Mittlerweile ist Rap in Deutschland wieder offener und vielseitiger geworden; progressive und experimentelle Werke stoßen auf immer mehr Verständnis, samplelastiger Sound erlebt seinen zweiten Frühling und man mag fast glauben, alle Rapper koexistieren friedlich nebeneinander. Zudem bekommen durch das Internet auch jene Gehör, die keine großen Labels und riesige Promomaschinerien im Rücken haben. All das könnte eigentlich ein Ansporn dafür sein, etwas positivere Töne anzuschlagen. Hiob & Dilemma jucken solche banalen Fakten jedoch wenig, denn in unserer Gesellschaft gibt es immer noch genügend Abgründe, genug Dreck und schleimige Oberflächlichkeit, die es anzuprangern gilt. Auf der neuen LP der beiden, "Kapitalismus Jetzt", wird daher kompromisslos wie eh und je gereimt. Das der Titel eher ironisch gemeint ist, dürfte dabei schon vor dem ersten Hördurchgang klar sein.
"So sehr sich tausend Professoren ihren Kopf zerbrechen/
Bleibt Humanisten nur das Jammern in die Stoffservietten/
Auch, wenn sie kistenweise Kaviar nach Simbabwe schicken/
Hungern Bitches weiterhin für neue Plastiktitten/"
(Hiob auf "Schöne neue Welt")
So beginnt das Album auch gleich mit einer waschechten Kritik an den negativen Seiten des Kapitalismus sowie den daraus resultierenden Missständen und Ungerechtigkeiten. Die vermeintlich "Schöne neue Welt" ist aus Sicht der beiden Hauptprotagonisten gar nicht so glanzvoll, wie man meinen mag. Man orientiert sich eher am dystopischen Gedankengut von George Orwells Roman "1984", als am Gerede von immer positiv gestimmten Gutmenschen. Auch im weiteren Verlauf merkt man: Hiob & Dilemma sind angeekelt von der Oberflächlichkeit und Schmierigkeit gewisser, nach Reichtum schmachtender Personengruppen. Stumpfes Glorifizieren des Hab und Guts, Geprotze, Prunksucht – mit diesen Dingen können die beiden absolut nichts anfangen und thematisieren derartige Szenerien zum Beispiel wunderbar sarkastisch auf dem Titeltrack "Kapitalismus Jetzt".
Wer nun jedoch glaubt, dass nur an der Gesellschaft gemäkelt wird und man auf den trivialen Lebensstil sowie den grenzenlosen Egoismus gewisser Menschen – die das kapitalistische System im negativen Sinne für ihre Zwecke missbrauchen – geschimpft wird, liegt falsch. Die beiden Rapper reflektieren genauso ihre eigenen Probleme, arbeiten das bisher Erlebte in lyrischer Form auf und erinnern sich an die Tristesse der Plattenbausiedlung und das Grau der DDR. Auch der Großstadtdschungel Berlins, wo beide mittlerweile ansässig sind, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Inspirationsquelle für die LP gewesen. Und manchmal wird neben aller Inhaltsfülle auch ganz einfach mit einer ungemeinen Aggression gebattlet, zerrissen, zerstört.
"Ihr seid Hippies, die sich auf Festivals 'nen Tripper teilen/
Kifferleichen, die sich selbst im Rettungszelt noch Pilze schmeißen/
Und Witze reißen – ich muss dem Rest der Welt den Ficker zeigen/
Und ziehe euch Hipstern mit 'nem Drecksskalpell 'nen Hitlerscheitel/"
(Morlockk Dilemma auf "Kettenbrief")
Die Soundästhetik und das Gesamtkonzept der Platte wurden von den beiden Hauptprotagonisten im Vorfeld mehrfach als retro-futuristisch bezeichnet und das bringt es sehr treffend auf den Punkt. Für die musikalische Untermalung zeigen sich ausschließlich Morlockko Plus und Hieronymuz, die Produzenten-Alter Egos von Hiob & Dilemma, verantwortlich. Um schon erwähnten Retro-Futurismus zu realisieren, wurde tief in der Plattenkiste gekramt. Tracks aus den '70ern, in denen Synthesizer eine große Rolle spielten, nahm man sich zur Hilfe und auch eine analoge Moog Maschine fand ihre Verwendung. Damit wurde eine einzigartige Klangwelt entwickelt. Auf der einen Seite meditativ, mystisch anmutend, nach einer von Psychedelika geschwängerten Realität klingend. Auf der anderen Seite dann wieder roh und düster. Und manchmal wird es sogar funky. Zum Beispiel auf dem Titel "Papierflieger", wo zudem Retrogott und Sylabil Spill zum Zuge kommen, die sich, angelehnt an den Albumtitel, ebenfalls sehr kritisch gegenüber der Musikindustrie und der teils verkorksten Gesellschaft äußern. Insgesamt vermittelten die Instrumentals, genau wie die Texte, eine pessimistische Sicht auf die Welt, Aggression und ab und zu sogar Trauer.
Dazu kommen die einzigartigen Reibeisenstimmen der beiden Rapper und eine technische Versiertheit, die nicht oft zu finden ist. An diesem 19 Titel umfassenden Monstrum eines Rapalbums stimmt also so gut wie alles. Eine großartige Abwechslung zum ganzen seichten, radioaffinen "Gute Laune"-Rap der letzten Monate und vor allem ein unglaublich intelligentes und erwachsenes Stück Musik, das einen krassen Kontrast zum leider immer noch existierenden Bild von Rap bildet, das Massenmedien, Politiker und besorgte Mittelstandsmütter gerne aufrechterhalten. Denn übertriebener Hedonismus und die Zurschaustellung des teuren Lebensstils sind genau die Dinge, die auf "Kapitalismus Jetzt" kritisiert werden.
"Seitdem aus deinem Horoskop ein wenig Wohlstand glanzt/
So lamentierst du provokant aus jedem Hochglanzblatt/
Du mimst den Popanz für den nächsten Facebookpost/
Es ist schon komisch, wie du jetzt den großen Gestus probst/"
(Hiob auf "Nur ein Stift")
Fazit:
Morlockk Dilemma und Hiob haben ein lyrisches Meisterwerk geschaffen, das kann man durchaus so sagen. Ein sehr innovatives Stück Musik, dessen Sound man in dieser Form wahrscheinlich noch nicht gehört haben wird. Trotz oder gerade wegen des anhaltenden Pessimismus und einer schier unerschöpflichen Wut ist man von diesem Werk gefesselt. Die beiden schaffen es, mit ihren Texten klare Bilder zu erzeugen; sie bringen die dunklen Seiten ans Licht und verfügen dabei über einen weitgefächerten Wortschatz. Das hat zur Folge, dass wahrscheinlich weder der Gangsterrap-Fan, der dir gerne mal dein Geld und dein Handy abzieht, noch Gina aus Castrop-Rauxel, die Casper und Cro irgendwie "voll süß" findet, dieses Album verstehen werden. Eine gewisse Erfahrung und etwas Sicherheit in der deutschen Sprache setzt die LP nämlich voraus. Und das ist auch fast der einzige "Kritikpunkt". Die Gruppe derer, die diesen Langspieler zu schätzen wissen, wird sich leider auf ein gewisses Klientel beschränken. Aber vielleicht ist genau das auch so gewollt. Dass hier keine Wohlfühlmusik geboten wird und "Kapitalismus Jetzt" einem einiges abverlangt, war von vornherein klar. Am Ende bleibt deswegen nur zu sagen: Es ist ein verdammt gutes (Rap-)Album, das auch in einigen Jahren noch Bestand haben wird.
Johann Voigt
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