Review: Musiye – Sean Gyle



  • 01. Intro
    02. Sean Gyle
    03. Rockstar
    04. Make Up
    05. Voll (Remix)
    06. Fotogen
    feat. Rapsta
    07. Zwick mich
    08. Warten
    feat. Toon


    Als ich das erste Mal einen Song von Musiye hörte, war ich sofort begeistert. Vielseitiger Flow, raffinierte Reime und ein radiotauglicher Refrain beförderten "Voll" umgehend in die Rotation meines MP3-Players. Die Veröffentlichung des Videos ist mittlerweile eineinhalb Jahre her und zwischenzeitlich habe ich gedacht, das MACHT Rap-Mitglied hätte das Mikrofon auf dem Dachboden verstaut. Nun ist aber doch seine Debüt-EP "Sean Gyle" erschienen und nach so langer Wartezeit sind meine Erwartungen dementsprechend hoch. Um es gleich vorweg zu nehmen: Sie wurden einerseits bitter enttäuscht, andererseits übertroffen. Klingt paradox, lässt sich aber leicht erklären. Denn was für Vorstellungsgespräche und einen Flirt in der Disko das wichtigste Kriterium für Erfolg ist, kann in der Musik auch in den Hintergrund treten: Die Rede ist vom ersten Eindruck. Manche Alben fesseln gleich beim ersten Hören, andere offenbaren ihr Potenzial erst nach Monaten. Häufig spielen dabei die Lebensumstände und Erwartungshaltung des Hörers eine Rolle. Im Folgenden sollen zwei solcher Blickwinkel als Bewertungsmaßstab für "Sean Gyle" dienen.


    "Die Deutschrapszene ist wie 'ne zu betrunkene Frau – ja, sie kotzt mich an/
    Hör mir jetzt zu, gib noch nicht auf, steck nicht den Kopf in' Sand/
    Standard, man, du hast doch diese Punks satt, schon okay/
    Nur eine Line und sie sind alle ganz platt – Loveparade/
    "
    (Musiye auf Voll (Remix))


    Folgendes Szenario: Es ist Montagabend, der Arbeitstag endlich beendet und ich will nur noch meine Ruhe. Jogginghose an, Kopfhörer auf. Ich blende alles aus und konzentriere mich auf die Musik. Erster Eindruck: Die Beats sind poppig, dennoch kraftvoll und vor allem sehr gut ausproduziert. Besonders die druckvollen Drums gehen gut ins Ohr und harmonieren hervorragend mit den melodiös vorgetragenen Raps des Künstlers. Insbesondere "Sean Gyle" und "Rockstar" tun sich hervor, weil hier Rock, Pop und HipHop miteinander verschmelzen, ohne Gefahr zu laufen, ein uninspiriertes Crossover-Projekt zu kreieren. Zu den gelungenen Produktionen gesellen sich Ohrwurm-Refrains, die dank vielseitiger Stimme und Musiyes Gespür für Harmonien sehr viel Dynamik erzeugen. So viel zum Musikalischen, jetzt zum Inhalt. Im Grunde lassen sich die sieben Tracks plus "Intro" in zwei Oberbegriffe einteilen: Party und Poserei. Es wird gefeiert, weil Musiye es nach eigener Aussage verdammt draufhat. Das ist im Rap nichts Ungewöhnliches und auch nicht verwerflich, wenn der Protagonist dann eben raptechnische Taten folgen lässt. Einen sauberen Flow hat Jaysus' Schützling definitiv zu bieten, viel mehr aber leider nicht. Der Rapper mit eritreischen Wurzeln versucht, primär mit Vergleichen und Wortspielen zu punkten, was leider kräftig nach hinten losgeht. Diese sind hin und wieder mittelmäßig, meist aber ziemlich schlecht. Lines wie "Sonst wirst du nicht an Bord kommen, wie ein Surfer ohne Arme" oder "Vielleicht treff' ich auf Ribéry und der pumpt mir die Kohle, dann bin ich dank Franck reich" stören den Hörgenuss leider gewaltig. Vor allem, wenn man wie ich auf der Couch liegt und sich die Texte genau anhört, anstatt die Musik nur nebenbei laufen zu lassen, ist von der guten Laune der Beats schnell nichts mehr zu spüren. Musiye opfert textliche Kohärenz für undurchdachte Wortspiele, was bei seinem immer wieder aufblitzenden Talent einfach nur schade ist. Am Ende der EP bin ich dementsprechend enttäuscht – da hilft es auch nicht, dass mit "Make Up" wenigstens ein Ansatz von Inhalt geboten wird. Ironischerweise prangert der Künstler Oberflächlichkeit an. Also genau das, was man auch seinen Tracks vorwerfen könnte. Mein Fazit fällt an diesem Montagabend also negativ aus, was einzig und allein an den schwachen Lyrics liegt:


    "Gib mir Eau de Toilette und ich bin stinkreich/
    Hab' nie einen Kater, außer wenn ich aufwach' im Tierheim/
    MACHT Rock Gang, bring XO und den Jacky/
    Lederjacke, Sonnenbrille nachts, so bin ich sexy/
    "
    (Musiye auf "Rockstar")


    Nun ein etwas anderes Szenario: Es ist Samstagabend, die Woche endlich beendet und ich habe Lust, ordentlich einen draufzumachen. Die Getränke stehen kalt, die Freunde trudeln ein und aus den Boxen kommt "Sean Gyle". Im Gegensatz zu Montag habe ich nun nichts mehr zu beanstanden. Wir wollen schließlich feiern, wen interessiert da schon der Text? Oben genannte Stärken kommen jetzt noch deutlicher zur Geltung: Druckvolle Beats, perfekte Refrains und dynamische Flowvariationen. Zudem schafft es Musiye, massentauglichen Partyrap auf Deutsch abzuliefern. Ein Unterfangen, woran schon der ein oder andere Rapper gescheitert ist. Nicht so der gebürtige Friedrichshafener, der sowohl Clubrhythmen ("Zwick mich") als auch Trapbeats ("Fotogen") spielerisch meistert. Auch die Featuregäste überzeugen: Rapsta mit psychotischem Stimmeinsatz und Toon mit hypnotisierendem Singsang verleihen der EP willkommene Variationen. Je später der Abend, desto mehr Spaß macht "Sean Gyle". Ein Textbeispiel spare ich mir an dieser Stelle, denn auf den Text achtet im Rausch ja doch keiner.


    Fazit:
    Es ist Sonntagmittag, ich kämpfe mit Aspirin gegen den Kater und lasse Musiyes Erstlingswerk Revue passieren. Montag war ich enttäuscht, der zweite Höreindruck konnte aber einiges, wenn auch nicht alles, wettmachen. Das Fazit fällt demnach zwiespältig aus: Einerseits bin ich enttäuscht, weil viel Potenzial durch halbgare Vergleiche und Themenlosigkeit verschenkt wurde. Andererseits hat die EP musikalisch viel zu bieten und dass der Protagonist eine Menge Talent hat, lässt sich nicht leugnen. "Sean Gyle" ist im Endeffekt Musik für Samstagabend, nicht mehr und nicht weniger. Sie funktioniert zum Feiern. Wer sich aber die Zeit nimmt, um genauer hinzuhören, ist schnell ernüchtert. So verliert die EP an Attraktivität; wenn der Rapper es aber schafft, den Fokus in Zukunft auf Aussagekraft anstatt schwache Vergleiche zu richten, steht einem sehr guten Album nichts im Weg. Die Möglichkeiten dazu sind auf jeden Fall gegeben.



    Marvin Nix (Woodfellas)

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  • Ich weiß nicht, schwanke zwischen "coole Instrumentals und lässiger Flow" und "behinderte Vergleiche".
    Ich meine, wenn man schon sowas macht kann man die Technik Sachen weglassen.

  • Hätte gerne zwei Reviews dazu gesehen. Die beiden Aspekte kann man mMn schwer in eine Review packen.
    Aber ist ja nur eine EP, daher solls egal sein


    4 Mics wären (wenn man das Alben von beiden Seiten, also der "Party"- und der "Intellekt"-Seite betrachtet) aber schon drinnen gewesen!

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