Meilensteine: Rödelheim Hartreim Projekt – Direkt aus Rödelheim (1994)

  • Rap ist seit über 40 Jahren Teil der Musikgeschichte. Und obgleich diese Zahl im Vergleich zu anderen Musikstilen gering scheint, war die Entwicklung in hohem Maße dynamisch und einflussreich. Wie kaum eine andere Musikrichtung hat das Rap-Genre politische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen reflektiert und künstlerisch verarbeitet. Ein Verständnis der Vergangenheit ermöglicht daher in besonderem Maße eine differenzierte und facettenreiche Wahrnehmung der heutigen Szene. Im Rahmen dieser Kolumne versuchen wir eine kritische Würdigung herausragender Alben der Rap-Geschichte. Basierend auf einer subjektiven Auswahl, unter Berücksichtigung der Fachliteratur, präsentieren wir euch die unserer Meinung nach prägenden Alben deutschsprachiger Rapmusik. Die Auswahl umfasst Werke, deren Relevanz auf künstlerischer Qualität und/oder Innovation beruht, welche aber auch kommerziell wahrgenommen wurden. Gleichzeitig wurde auf eine Balance der verschiedenen Stilrichtungen geachtet, um einen möglichst ausgewogenen Blick auf die Entwicklung zu ermöglichen. Von jedem Künstler, den wir berücksichtigt haben, wurde jenes Werk ausgewählt, welches unserer Einschätzung nach zu einem Meilenstein geworden ist. Eines wird bei diesem knapp zwanzigjährigen Streifzug durch die Geschichte deutlich: Rap in Deutschland hat eine lehrreiche, kontroverse und sehr spannende Vergangenheit.




    Rödelheim Hartreim Projekt – Direkt aus Rödelheim (1994)



    01. In wenigen Sekunden
    02. Reime
    03. Keine ist
    04. Wenn es nicht hart ist
    feat. Schwester S. & Timo S.
    05. Wahnsinn
    06. Vision
    07. Guter Tag
    08. Mamaplazda
    09. Zeit zum Besinnen
    10. Krieg
    11. Papa


    Die deutsche Rapszene befand sich 1994 immer noch in einem Selbstfindungsprozess. In den Vereinigten Staaten hatte sich Rapmusik längst als ausdifferenzierte und ambitionierte Kunstform etabliert. Zu Beginn der 90er Jahre erschienen zeitlose Meisterwerke wie "The low end theory" von A Tribe Called Quest (1991), das selbstbetitelte Debüt von Cypress Hill (1991), die G-Funk-Meilensteine "The chronic" von Dr. Dre (1992) und Snoop Doggs "Doggystyle" (1993) sowie der East-Coast-Klassiker "Enter the Wu-Tang (36 Chambers)" (1993) des Wu-Tang Clans. Verglichen damit erschienen viele deutsche Beiträge mit ihrem naiven Popcharakter oder festgefahrenen Szenedenken bestenfalls harmlos. Spätestens 1994 änderte sich das nachhaltig: Konkret Finn veröffentlichten die Single "Ich diss dich" und das Rödelheim Hartreim Projekt (RHP) im gleichen Jahr sein Debüt "Direkt aus Rödelheim". Die Anspielung war unmissverständlich: Hier war eine Crew mit dem Anspruch, das deutsche "Straight outta compton" geschaffen zu haben. Harter Rap von der Straße ohne kommerzielle Attitüde. Zwar war der Frankfurter Stadtteil Rödelheim auch in den 90ern weit harmloser als sein Pendant in Los Angeles mit den Bandenkriegen der Bloods und Crips – aber für harten Rap war es ein deutlich glaubwürdigerer Background als Stuttgart oder Heidelberg.


    Das Rödelheim Hartreim Projekt war dabei keinesfalls eine Newcomer-Gruppe. Moses Pelham war seit den 80er Jahren als Rapper aktiv und hatte bereits 1989 mit dem englischsprachigen Solodebüt "Raining Rhymes" seinen Einstand als Musiker gegeben. Zusammen mit Jugendfreund Thomas Hofmann gründete er 1993 das RHP und machte Rap auf Deutsch. Bereits mit der ersten Single "Reime" gab es die erste handfeste Kontroverse. Moses P. und Thomas H., wie sie sich als Künstler nennen, machen darin unmissverständlich klar, dass ihrer Ansicht nach die Fantastischen Vier dafür standen, wie deutscher Rap nicht sein sollte. Mit einem Video in urban-trister Schwarz-weiß-Optik und auf einem düsteren Synthiebeat setzte sich das RHP deutlich vom Feindbild Fanta 4 ab. Es ging darum, Rapmusik härter und ehrlicher zu machen. Klassischer Gangsta-Rap war das keineswegs, sondern schlichtweg provokanter Battlerap mit Straßenattitüde. Es ging nicht um Kriminalität, sondern um eine Identität, eine musikalische und inhaltliche Standortbestimmung und Abgrenzung zum als verlogen und seicht empfundenen Mainstream. Der Beef war unvermeidlich:


    "Sie nennen sich fantastisch, ich wundere mich, was sich/
    Die Jungs dabei denken, sie sind spastisch (Hör mal auf!)/
    Lass mich – drastisch sagen wir, wie's ist, mit List/
    Werdet ihr abgedisst, angepisst, bis ihr wisst:/
    'Wer, wie, was?' Der, die, das/
    Projekt aus Rödelheim kommt krass!/
    "
    (Martin H. auf "Reime")


    Die Fantastischen Vier dissten später auf dem Track "Was geht" des 1995er-Albums "Lauschgift" zurück. Unabhängig von diesem Konflikt: Was Thomas Hofmann und Moses Pelham in Zusammenarbeit mit den Produzenten Martin Haas und Robert Sattler mit diesem Debüt veröffentlichten, setzte sich deutlich von vergleichbaren Releases dieser Tage ab. Die Produktionen waren düsterer, nachdenklicher und melancholischer. Man setzte auf Synthesizer-Sounds, samplete die Böhsen Onkelz ("Guter Tag") und nahm auch orchestrale Streicher zur Hilfe, wenn es effektvoll klang ("Krieg"). Bei letzterem Titel ernsthaft Goebbels Ausspruch "Wollt ihr den totalen Krieg?" aus der Ansprache im Berliner Sportpalast vom 18. Februar 1943 als Refrain zu samplen, zeigt deutlich die Konsequenz und gleichzeitig auch begrenzte Selbstreflexion dieses Debüts. Provokation war Programm, Selbstinszenierung ("Papa") diente als Selbstzweck und Stilmittel zugleich. Eingängige Melodien, Refrains zum Mitsingen, deutliche Aussprache: unnötig. Die Programmatik: "Wenn es nicht hart ist, ist es nicht das Projekt" ("Wenn es nicht hart ist"). Trotzdem hatte "Direkt aus Rödelheim" seine ruhigen Momente und war beileibe kein eindimensionales Battle-Album. Die Reduktion auf öffentliche Kontroversen und die Fehde mit den Fantastischen Vier würde "Direkt aus Rödelheim" keineswegs gerecht. "Zeit zum Besinnen" und vor allem die starke Single "Keine ist" zeigten Ansätze zu einer inhaltlich stärkeren Bandbreite und einer zwar nicht ausgereiften, aber sehr poetischen Sprachform:


    "Es tut weh, ja doch, ich denke, ich seh' klar/
    Sie steht da und nur ich kann sie seh'n/
    Ich möchte bei ihr steh'n, ich werde zu ihr geh'n/
    Wehender Wind, sehendes Kind/
    Eilt nun geschwind dorthin, wo es beginnt/
    Nimmt wie gegeben, das Ende vom Streben/
    So ist es eben/
    "
    (Moses P. & Martin H. auf "Keine ist")


    Natürlich ist auch "Direkt aus Rödelheim" als Kunstwerk Teil seiner eigenen Zeitgeschichte. Technisch ist deutsche Rapmusik wesentlich ausgereifter geworden, musikalisch vielfältiger und spätestens seit Kool Savas und der Ära von Aggro Berlin sind deutsche Hörer wesentlich härtere Lyrics gewohnt. Seinen Rang als Meilenstein verdient "Direkt aus Rödelheim" aber nach wie vor. Moses P. und Martin H. erweiterten deutschen Rap um eine wesentliche, neue Stilrichtung und öffneten die Tür für eine Reihe weiterer Künstler. Das Album verkaufte sich 1994 insgesamt über 160.000 Mal. RHP setzten Frankfurt in puncto Rapmusik stilistisch und kommerziell endgültig auf die deutsche Karte. Das Album ermöglichte zwei Künstlern erstmals eine Plattform, die in Zukunft noch für Furore sorgen sollten: Xavier Naidoo (auf "Reime") und Schwester S. aka Sabrina Setlur (auf "Wenn es nicht hart ist"). Ein Jahr später folgte das Live-Album "Live aus Rödelheim" und 1996 das kommerziell noch erfolgreichere "Zurück nach Rödelheim". Damit war das Projekt beendet. Ein für 2001 angekündigter Nachfolger namens "Odyssee in Rödelheim" fand nie den Weg ins Presswerk. Moses Pelham veröffentlichte solo die "Geteiltes Leid"-Trilogie (1998 – 2012) und feierte mit der Gruppe Glashaus weitere Charterfolge. Selbst der Beef mit den Fantastischen Vier wurde irgendwann beigelegt. Inwiefern "Direkt aus Rödelheim" das deutsche Pendant zu NWAs "Straight outta compton" war, muss jeder für sich selbst beurteilen. Ein Meilenstein der deutschen Rapmusik, wenn auch ein sehr eigenwilliger, war es zweifellos.



    (Philipp)



    Meilensteine-Kolumne Teil 1: Die Fantastischen Vier – 4 gewinnt (1992)


    Meilensteine-Kolumne Teil 2: Various Artists – Alte Schule (1993)


    Meilensteine-Kolumne: Kommentare/Diskussionen/Ideen zur Kolumne

  • hätte mir eigentlich Von Bordstein bis zur Skyline gewünscht, hätte ja zur Zeit gepasst
    aber ihr scheint das ja chronologisch zu machen?
    ganz gut geschrieben aber

  • Zitat

    Original von Nereid
    'Zurück nach Rödelheim' war doch viel besser! Das belegen auch die Chart Platzierungen.


    Oder beinhaltet Chronologie, dass man die Erstveröffentlichung einer Gruppierung betrachtet?


    Nein. Aber Meilenstein muss ja nicht heissen, dass dieser durch Chartplatzierungen belegt oder gar deshalb von uns ausgewählt wird, wenn eine Platte weit vorher z.B. szeneintern viel mehr "bewegt"/ausgelöst/revolutioniert hat. Hinterland war auch Caspers erfolgreichstes Album, aber es muss nicht zwingend das "beste" gewesen sein. Dass so eine Kolumne natürlich stellenweise auch geschmacksabhängig ist, ist klar ..


    Zitat

    Original von LFCACM
    Sehr coole Kategorie, hab das Album sogar. :thumbup:


    Wird es sowas auch für Ami Alben wie Paid in Full, Illmatic undso geben?


    Nein. Das Magazin behandelt - außer in den News - grundsätzlich nur deutschen Rap.

  • Yeah, sehr nice!


    Kann mich noch gut daran erinnern.
    "Reime" war der erste Deutschrap Track mit dem ich was anfangen konnte in punkto Aussprache und Flow obwohl "wir" (zumindest einige hier in München) Rap auf deutsch immer ziemlich uncool fanden.
    Da hatten wir uns einfach mehr mit The Chronic, Doggystyle, Da Lenchmob, Cypress Hill, Funkdoobiest, Das EFX usw befasst.


    Aber das Album hab ich rauf und runter gehört und war auch auf deren Konzerten.


    War ne coole Zeit!

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