Review: Casper – Hinterland



  • 01. Im Ascheregen
    02. Hinterland
    03. Alles endet (aber nie die Musik)
    04. ... nach der Demo ging's bergab!
    05. 20qm
    06. Lux Lisbon
    feat. Tom Smith
    07. Ariel
    08. Ganz schön okay
    feat. Kraftklub
    09. La Rue Morgue
    10. Jambalaya
    11. Endlich angekommen


    Ein künstlerischer Werdegang ist in den seltensten Fällen eine strategisch durchgeplante Laufbahn mit dem schematischen Ablauf eines Phasenmodells. Oft entstehen Veränderungen im Gesamtwerk durch das Spannungsfeld zwischen Künstler und sozialer Umgebung, persönlichem Schicksal oder externen Einflüssen. Reine Entertainer unterhalten ein Publikum durch Anpassung an den Konsensgeschmack der Audienz, Künstler biedern sich im Idealfall im Sinne der "L'art pour l'art" keinem Zeitgeist an, mitsamt aller Konsequenzen, kommerziell wie musikalisch. Bei Casper ziehen sich die skizzierten Spannungen in besonderer Intensität durch die Diskografie: "Hin zur Sonne" (2008) und der kommerzielle Durchbruch "XOXO" (2011) waren beide musikalische Standortbestimmungen eines sich permanent verändernden Künstlers, der sich als überzeugter Generalist in allen großen Sparten deutschen Sprechgesangs versuchte, musikalisch und thematisch. Auf hohem Niveau. War das Debüt noch eine fulminante Mischung aus Alltagsbetrachtung und persönlichem Aufbruch, markierte "XOXO" den Schritt zu weniger Autobiographie und mehr Mainstreamthemen über Liebe, Leben und Leidenschaft. Was danach folgte, war der kommerzielle Durchbruch und die immer wiederkehrende Frage nach der eigenen künstlerischen Identität. Drei Pfade standen zur Auswahl: Ein zweites "XOXO", ein pures Rapalbum oder eine grundsätzlich neue Idee. Casper hörte in der Folge verstärkt Nick Caves' legendäres "Murder Ballads". Das neue Ziel: Ein "Stadionalbum". Das Ergebnis trägt den Namen "Hinterland" und erzählt bruchstückhaft die Geschichte einer Jugend in Deutschland, irgendwo zwischen Americana und jenem Teil der deutschen Provinz, für den es außer dem englischen "Wasteland" wohl keine adäquate Bezeichnung gibt.


    "Immer Steine schmeißen, Hauptsache laut/
    Für alles zu haben, zu kaum was zu gebrauchen/
    In diesen Hinterwelten getrieben von Kindergeld/
    Wenn Taten mehr sagen als Worte, sind wir Stille selbst/
    "
    (Casper auf "Hinterland")


    Was als vermeintliches Konzeptalbum erscheint, ist in Realität eine komplexe Collage vielfältiger Einflüsse. So unterschiedliche musikalische Vorbilder wie Arcade Fire, A$AP Rocky und Frank Turner haben die Entstehung von "Hinterland" beeinflusst und wurden zusammen mit den Produzenten Konstantin Gropper (Get Well Soon) und Markus Ganter (Sizarr) zu einem komplexen Gesamtwerk mit Folkeinschlag, Bläsern und Chören geschneidert. Während das langgezogene "Im Ascheregen" noch den Übergang von "XOXO" zum neuen Stil markiert und "lieber Neubeginn, als was das Alte verspricht" postuliert, beginnt bereits mit dem gitarrenlastigen Titelstück der Umschwung, weg vom Indierock zu entspannteren Klängen. Auf "20qm" wird über eine autobiografische Beziehung im engeren und Liebe im allgemeineren Sinne philosophiert, mit der Erkenntnis, dass "vielleicht [...] 20 Quadratmeter zum Träumen zu klein" sein könnten. Mit "La Rue Morgue" gibt es eine stimmungsvolle Hommage an die düstere Balladenästhetik von Nick Cave und Tom Waits, während auf dem elegischen "Lux Lisbon" der stimmlich überzeugende "Editors"-Frontmann Tom Smith mitmischt. Ein mutiges Unterfangen und auf allen Ebenen weit hinter den englischssprachigen Vorbildern, dennoch atmosphärisch dicht und künstlerisch auf vielen Ebenen avantgardistisch. Der musikalisch verunglückte Schunkelpop von "Alles endet (aber nie die Musik)" und "... nach der Demo ging's bergab!" fällt ebenso wie das marginal unterhaltende "Ganz schön okay" mit Kraftklub negativ auf. Es fehlen hörbar ein musikalisch zündendes Konzept und wirklich packende Lyrics. Das wurde auf "XOXO" mit "So perfekt" deutlich vielsagender und musikalisch spannender gelöst. Das bläserlastige "Jambalaya" erinnert trotz nervigem Chor dagegen angenehm an die letzten "reinen" Rapsongs der Marke "Halbe Mille" und bildet einen schönen Kontrast zum sonst dominierenden Indiesound. Weitere Highlights auf "Hinterland" sind die nachdenklichen und persönlichen Facetten, welche hinter der über weite Strecken sehr verkopften Sprachästhetik zu selten durchscheinen. Ganz besonders "Ariel" ist eine reduzierte und daher umso überzeugendere Ballade an eine verstorbene Halbschwester:


    "Und sag mir wie das war, wo du gingst/
    Ist es wahr, mit den Farben, alles warm und gedimmt?/
    Als ich den Anruf bekam, die Sprache verging/
    Alle warten, dass ich was sag', war nie stark in so Dingen/
    Aber sag, wie war's, gab's, wo du kamst/
    Den immer währenden Chor, die Parade, so wie man sagt?/
    Ein überwältigendes Nichts, hinter blendend grellem Licht/
    Die größte Party von allen, hoff' es hält, was es verspricht/
    "
    (Casper auf "Ariel")


    Am Ende des Albums wird auf dem melancholischen "Endlich angekommen" über die jüngere Vergangenheit der eigenen Karriere, die schwierige Selbstbehauptung als Künstler und die Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit des Lebens an sich reflektiert. "Nur was immer bleibt, sind Bilder zur Zeit" heißt es da nachdenklich. Es braucht keine übernatürlichen Kräfte, keine überbordende Perfektion, um am Ende einer langen Reise bei sich selbst anzukommen. Die Frage, inwiefern das Motto des letzten Songs auf "Hinterland" als künstlerisches Werk selbst im Kontext von Caspers bisherigem Schaffen zu bewerten ist, kann nur schwierig beantwortet werden. Ein Konzeptalbum ist "Hinterland" nicht geworden, dazu ist es thematisch und musikalisch zu inkonsistent. Es ist ein mutiges, weil innovatives und vielfältiges Album, dem es in seiner Ganzheit an einer künstlerischen Richtung mangelt. Die Einflüsse sind vielfältig, die Themen ebenfalls und die Ambition ohnehin maximal. Bei all der Vielfalt fehlt eine klare Richtung über den Kern des Albums. Atmosphäre, Emotionalität, inhaltliche Tiefe? Bei "Hinterland" findet sich alles in begrenzter Form wieder. Aber für eine poetische Platte sind die Texte zu verkopft, für ein primär emotionales Album finden sich zu wenig berührende Thematiken und für ein atmosphärisches Album fehlt musikalische Kohärenz und gesangliche Ausdruckskraft. Das Ergebnis ist, dass "Hinterland" stellenweise erstaunlich einfach nebenbei gehört werden kann, ohne den Hörer zu berühren und mitzureißen. Konstantin Gropper und Markus Ganter schaffen einen vielschichtigen Sound, aber packend und melodiös mitreißend wird das Album zu selten, auch wenn mit "Im Ascheregen", "Lux Lisbon" und "Endlich angekommen" deutliche Ausrufezeichen gesetzt werden.


    Es mag sein, dass Casper in vieler Hinsicht mit "Hinterland" bei sich angekommen ist. Aus künstlerischer Sicht aber ist "Hinterland" nicht das Meisterwerk, auf das er nach eigener Aussage so vehement hinarbeitet. Es ist ein Übergangsalbum auf der Suche nach dem eigenen Stil, voller Experimente und neuer Ansätze. Durch den Anspruch der Neuartigkeit und Veränderung macht er sich in vieler Hinsicht angreifbar, doch genau das zeichnet einen Künstler aus. Nur wer sich angreifbar macht, entwickelt sich konsequent weiter. "Hinterland" ist dieser Übergang und es zeigt mehr als genug Potenzial, das eine Fortsetzung rechtfertigt. "Keine Supermänner, dennoch verdammt nah dran" heißt es ganz am Ende des Albums. Das ist, wie vieles weitere in dem Song, ein Selbstzitat. Aber für eine musikalische Retrospektive ist es sicherlich noch zu früh. Das ist gut so.



    (Philipp)

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    Bewerte diese CD:
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  • Wahrscheinlich das kontroverseste Album des Jahres :D
    Für mich persönlich nur 5 Lieder drauf die ich anhören kann, diese sind jedoch echt stark. 5 von ohnehin nur 11 Liedern ist nur eben keine tolle Quote, fand es alles in Allem enttäuschend. Gönne ihm trotzdem jeden Erfolg der Welt, er ist ein krasser Künstler. Mir gefällt sein neuer Stil nur einfach Null, schlecht würde ich es deswegen nicht nennen, nur für mich persönlich nichts. Schade.

  • Zitat

    Original von CouchPwntato
    größte Enttäuschung des Jahres. wirklich überraschend, dass es hier so eine gute Bewertung kriegt.


    :thumbup:

  • Auf jeden Fall die beste Entscheidung, die lupa treffen konnte, die Review von Philipp schreiben zu lassen.
    Für mich ist das, gerade im Bereich der HipHop-Presse, die mit Abstand treffendste Kritik zu dem Album. Die JUICE und rap.de haben sich mit ihren Höchstwertungen meiner Meinung nach blamiert. "Oh, das klingt anders als die meisten Rapalben und Casper ist eh ein großer Name, also muss ich komplett durchdrehen", nichts weiter waren die Reviews und genau deshalb war hier die Auswahl des Kritikers so richtig, da sich Philipp auf diese Art nicht zu schnell beeindrucken lässt. Warum es bei all der (berechtigten) Kritik noch 5 Mics wurden (es liest sich wie 4), verstehe ich zwar nicht, vermute aber mal, dass sie in Relation zu anderen Alben vergeben wurden und da ist "Hinterland" auch für mich weit überdurchschnittlich.
    Wie gesagt: Die Kritikpunkte hätte ich nie so gut auf den Punkt bringen können, stimme da großteils komplett zu.

  • das rappersin anti sein muss, ist ja verständlich, aber dass auch der uservote so schlecht ausfällt bei so einem album versteh ich einfach nicht. es ist denke ich offensichtlich, dass viel zeit und mühe in dem album steckt und dass es im künstlerischen sinne sehr weit vorne mitspielt, wenn es nicht ganz oben steht!
    10/10 von mir

  • Hab mal eine 7 gegeben, obwohl ich das eigentlich noch für zu viel halte. Vielleicht bin ich auch einfach nur krass enttäuscht, weil es seinem Hype nicht gerecht wurde. Vielleicht ist es aber wirklich so schwach, wie ich es wahr nehme. Ist ja immer so ein Ding mit diesem Gehirn.

  • Kein Plan warum das hier so gehatet wird. Ich finds ganz gut, jedoch sind "Alles endet" und "Nach der Demo ging's bergab" Totalausfälle und passen auch überhaupt nicht in das Konzept des Albums rein.

  • "La Rue Morgue" wird leider konsequent geskippt. Außerdem fällt die kurze Spielzeit, wie ich schon befürchtet hatte, negativ ins Gewicht. Dafür sind mit "Im Ascheregen", "Hinterland", "Ariel", "Endlich angekommen" und "20 qm" unglaublich tolle Songs vertreten. Und der Track mit Kraftklub sowie "Jambalaya" sorgen immer wieder für gute Laune.


    Insgesamt nicht so grandios wie XOXO, aber dennoch sehr gut.



    Zitat


    Mit Ariel hat Casper einen ähnlich außergewöhnlichen Namen gefunden. Die Geschichte zum Song „Ariel“, den er übrigens selbst zu seinem Lieblingstrack auf Hinterland erkoren hat, ist jedenfalls sehr ernst. Im Interview mit der Juice erzählte er, dass er „Ariel“ seiner Halbschwester gewidmet hat, die während der Aufnahmen zu Hinterland bei einem Autounfall in Amerika ums Leben kam. Vor dem Unfall hat er alle Künstler, die ihre Musik als Ventil benutzen nur belächelt, meint er in einem anderen Interview mit Kulturnews.de. Aber dann, in der Nacht, als ihn die Nachricht vom Tod seiner Schwester erreichte, hatte er niemanden zum Reden, saß alleine in seinem Wg-Zimmer und brauchte ein Ventil. Noch in derselben Nacht entstand „Ariel“. Mit Oscar-Wild-Zitaten, ein paar klaren Bezügen zu Oasis und Textpassagen, die mich ein wenig an Titanic erinnern. „Wenn ich geh, wenn ich geh, wenn ich geh, wenn ich geh. Bin ich doch da, solang die Band noch spielt. Aah.“


    Quelle: Vice

  • Zitat

    das rappersin anti sein muss, ist ja verständlich, aber dass auch der uservote so schlecht ausfällt bei so einem album versteh ich einfach nicht. es ist denke ich offensichtlich, dass viel zeit und mühe in dem album steckt und dass es im künstlerischen sinne sehr weit vorne mitspielt, wenn es nicht ganz oben steht! 10/10 von mir


    Hab mal hervorgehoben, wo dein Unverständnis, dass der Uservote so schlecht ausfällt, mit der Unfähigkeit es irgendwie zu begründen, korreliert.


    Zur Review: Eine weitaus reflektiertere Review als mans von rappers.in hätte erwarten können. Jedoch hab ich manchmal das Gefühl, dass du wenns um die Unausgegorenheit geht ein wenig zurückziehst. Das finde ich schade; aber wie gesagt schön, dass man mal eine r.in-Review liest, die - meinem Eindruck nach - sehr weit weg von der pseudoeloquenten Selbstdarstellerei eines ProRipper ist und eine fundierte Meinung erkennen lässt. Gut gemacht!

  • heftige bewertung hier, hab eigentlich von allen seiten nur positives über hinterland gehört und jetzt sprechen sich soviele dagegen aus.
    glaub das wird wie mit xoxo .. das album hat auch seine zeit gebraucht.
    trotzdem, ziemlich gute review, klingt entgegen anderer reviews viel sachlicher.

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