Review: Pyrin – Der rote Teppich im Nichts



  • 01. Der rote Teppich im Nichts (Prolog)
    02. Revolver
    03. Ein Cyborg unter vielen
    04. Erinnerungen aus zweiter Hand
    05. Eine Pille zu vergessen
    06. Pixelschamane
    07. Staubgalerie
    08. Koboldmaki
    09. Ein und Alles
    10. Metalepse
    11. Antichrist
    12. Ein bisschen Sonne
    13. Die letzte Substanz
    14. Fibonacci
    15. Zeitinfarkt
    16. Die Tür im Nichts (Der verlorene Schlüssel)
    17. Zurück
    18. Jetzt (Epilog)


    Ein roter Teppich ist stets Sinnbild für ein hohes Amt, Macht oder sonstige Errungenschaften. Einst war das Betreten nur den Mächtigen vorbehalten und galt als Privileg von Königen und höchsten Würdenträgern. Schon in der "Orestie" des griechischen Dichters Aischylos wagt sich der Protagonist Agamemnon nicht auf den für ihn bereiteten purpurnen Teppich, aus Furcht, vor den Göttern überheblich zu wirken. Heutzutage bewegt sich selbst die Pseudoprominenz furchtlos darüber hinweg, um von den Massen bestaunt und begafft zu werden. Denn zu jeder Zeit hatte der rote Läufer vor allem eine Wirkung: Alle Aufmerksamkeit auf sich und jene, die sich auf ihm tummeln, zu ziehen, während die weitere Umgebung zu verblassen scheint und im Vergleich geradezu unbedeutend wirkt. Auf dem neuen Album von Thomas Pyrin wird "der rote Teppich im Nichts" ausgerollt, und wir machen uns gemeinsam mit dem Rapper auf eine Reise. Wohin wir kommen ist unklar, doch der Weg ist das Ziel. Und eines sei jetzt schon gesagt: Dieses Ziel ist eine Symbiose aus wahnwitzigen Fieberträumen und kühler Realitätsdarstellung. Aus nüchternen Wahrheiten und verspielten Metaphern. Aus einem roten Teppich und dem Nichts.


    "Willkommen im Verein der akrophoben Giraffen/
    Wir können reich werden und gleichzeitig im Lotussitz kacken/
    Zwischen zahllosen Variablen rechne ich mit allem/
    Echte Engel feiern Feste wie sie fallen/
    "
    (Pyrin auf "Der rote Teppich im Nichts (Prolog)")


    Die ersten Schritte wagen wir zu surrenden Synthieklängen, bevor Pyrin zusammen mit donnernden Drums beginnt zu rappen. Wobei "zu sprechen" dem Ganzen wohl näher kommen würde. Denn ein sehr markantes Merkmal des Stuttgarters ist seine meist eher gesprochene Vortragsweise ohne melodiöse Betonungen, die zunächst reichlich gewöhnungsbedürftig ist, mit der Zeit aber immer weniger negativ auffällt. Textliche Andeutungen bezüglich des Schlafens und Träumens legen nahe, dass unsere Reise auch als Traum verstanden werden kann, was durch ein Füllhorn an Surrealitäten zunehmend wahrscheinlicher wird. Den Ausklang des Prologs bilden kreischende E-Gitarren, ein schreiender Pyrin und eine etwas fragwürdig anmutende Growling-Einlage, sodass wir bereits eine große, mehr oder minder wohlklingende Vielfalt zu hören bekamen, als wir in den ersten Akt des Albums einstiegen.
    Denn nun befinden wir uns auf dem Teppich. Mit ihm als rotem Faden zu unseren Füßen blicken wir uns um und erhalten einen Blick auf die Gesellschaft sowie ihre Probleme und Missstände. Mit gezücktem "Revolver", lauter Stimme und großen Schritten schreitet der Rapper voran. Wir folgen ihm geradezu mechanisch, was uns laut Pyrin im Blut liegt, sei jeder von uns doch letztlich nur "ein Cyborg unter vielen". Kratzender Sound und dumpfer Bass, begleitet von einem konstanten "Schrittgeräusch", erzeugen das Bild tausender künstlicher Wesen im Gleichschritt, die von einer gefühllosen, zielorientieren Gesellschaft zu willenlosen Maschinen gemacht werden und sich stetig im Zwiespalt zwischen dem Streben nach Individualität und der Sicherheit und Akzeptanz innerhalb der anonymen grauen Masse gefangen sehen. Unser Reisebegleiter bietet uns "eine Pille zu vergessen" an, unter deren Einfluss wir schrille, sphärische Klänge und harten Boom-bap-Sound wahrnehmen und uns mit der Frage konfrontiert sehen, ob Vergessen tatsächlich Heilung bedeuten kann, oder doch nur einen Teil der Verdrängung darstellt. Doch noch während wir mit der Suche nach einer Antwort beschäftigt sind, nimmt die Wirkung der Pille zu, was uns eine verzerrte, düstere Klangwelt eröffnet, in der Pyrin als unser persönlicher "Pixelschamane" fungiert. Mit einem teilweise etwas seltsamen, da sehr exakt an den Takt angepassten Flow, grübelt er mit uns darüber, ob Drogenkonsum die Wahrnehmung verzerrt und alles verschwommener erscheinen lässt, oder die Realität dadurch nur umso klarer für uns erkennbar wird. Der Sound klingt langsam aus und allmählich kommen auch wir von unserem kurzen Drogentrip wieder herunter. So weit herunter sogar, dass wir nun unter dem Teppich landen. Dort, wo der zweite Akt stattfindet.


    "Schön, dass wir soviel lernen, schön, dass wir Moral erfahren/
    Es beruhigt, zu wissen, dass man 'Endlösung' nicht sagen darf/
    Wir glauben, wir hätten die Gabe, Lügner zu erkennen/
    Vielleicht hilft es, prophylaktisch ihre Bücher zu verbrennen/
    "
    (Pyrin auf "Staubgalerie")


    Nur wenig Licht dringt durch das dichte Geflecht des Teppichs, weswegen es hier unten, während des zweiten Akts, nur wenig zu sehen gibt. Stattdessen befassen wir uns mit dem eigenen Ich, unserem seelischen Innenleben und den vielen Persönlichkeiten, welche innerhalb der Hülle eines einzelnen Menschen verborgen sein können. Allerdings ist es hier nicht nur dunkel, sondern auch staubig. Eine regelrechte "Staubgalerie" kratzt im Hals und brennt in den Augen, als wir uns mit dem geschichtlichen Dreck, der sonst allzu gern unter den Teppich gekehrt wurde, befassen müssen. Die Geräusche der Außenwelt wabern nur dumpf und leise zu uns hinab, während Pyrin, der direkt neben uns steht, klar und deutlich zu hören ist. Gerade deshalb fällt uns auf, wie seine Stimme gemeinsam mit ihm auf- und abhüpft und in ihrer Betonung geradezu spielerisch auf dem Beat tänzelt, als er uns "mit Augen wie ein Koboldmaki" vorausleuchtet. Seine langsamen, weiten Schritte, exakt der gestreckten Erzählweise angepasst, bringen uns in surreale Situationen, in denen Wirklichkeit und Traum ineinander verlaufen.
    Wo Träume sind, ist auch der Sandmann nicht weit. Hier tritt er in Form von Auszügen aus der gleichnamigen Erzählung E.T.A. Hoffmanns in Erscheinung, die uns von einem sich drehenden Holzpüppchen, einer leblosen Puppe erzählen. Pyrin führt dies auf "Ein und Alles" und dessen düsteren Beat aus unheilvollem Bass im Hintergrund, schrillem Klirren im Vordergrund und ruhigen Klängen als harmonische Überleitung weiter aus. Er erzählt uns von einem imaginären Wesen, welches aus Einsamkeit von seinem geistigen Vater erdacht wurde und sich in einer Art Liebesbeziehung mit ihm befindet. Mit der Zeit scheint die fiktive Figur jedoch ein Eigenleben zu entwickeln, da ihr Erfinder sich fast schon bedroht fühlt und nicht mehr sicher zu sein scheint, ob nur sie nicht ohne ihn oder auch er nicht ohne sie weiterexistieren kann. Der Abschluss dieser Reisen ins Innere führt uns in Pyrin selbst. Langsamer, entspannter Sound, rauschend und kratzig wie von einer alten Jazzplatte gesamplet, begleitet uns, als der Rapper von innerer Zerrissenheit und Zwiespalt spricht. Der Beat reduziert sich auf einzelne, leise Klänge, bevor sich die zweite Persönlichkeit, der "Antichrist", zu Wort meldet und eine Art Zwiegespräch stattfindet. Im dritten Part des Tracks beweist Pyrin, dass er durchaus des gewohnten Sprechgesangs fähig ist, passt seine Stimme dem schneller werdenden Beat an, wodurch das Soundbild wesentlich dynamischer und energiegeladener wirkt. Die kurze Metalbeat-Einlage samt erneutem Growling am Ende wirkt dann jedoch leider etwas störend und fehl am Platz, weshalb es wohl das Beste für uns wäre, an dieser Stelle unter dem Teppich hervorzukommen und uns dem dritten und somit letzten Akt zu widmen.


    "Fünf vor zwölf, ich rundete zur nächsten halben Stunde auf/
    Schaut mich an, ich hatte dem Tod den Galgen abgekauft/
    Ich hörte die schleichenden Krankheit aus dem Halse meiner Frau/
    Meine Zeit stand, ich sah Freunde altern und ergrau'n/
    "
    (Pyrin auf "Die letzte Substanz")


    Eine kleine instrumentale Bridge aus euphorischen, leichten Klängen führt uns durch die roten Fasern ans Ende des Teppichs und schon erblicken wir "ein bisschen Sonne". Nun, da wir uns mit den Problemen von außen und innen befasst haben, ist auf dem letzten Stück des Weges, an dessen Ende wir eine Tür erkennen können, nur noch die Zeit relevant. In verschiedenen Facetten wird sie und die mit ihr verbundenen Fragen nach Leben und Sterblichkeit analysiert, sodass wir, nachdem "die letzte Substanz" eingenommen wurde, erkennen müssen, dass ewiges Leben zu Entfremdung und Einsamkeit führt. Unermüdlich gehen wir voran und das Ende ist zum Greifen nah, als ein stechender Schmerz in unserer inneren Uhr sich bemerkbar macht und wir einen "Zeitinfarkt" erleiden. Infolgedessen erleben wir einen Pyrin, der geradezu schauspielerisch durch verstellte Stimme verschiedene Personifizierungen der Zeit darstellt. Einmal ein verworrenes Geflecht aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das mit sehr hoher Stimme paradoxe, zeitbezogene Dinge von sich gibt, einmal eine knurrende, finstere Stimme als Verkörperung der Zeit selbst. Als das künstlerische Ich des Tracks stirbt, erwachen wir wieder, um unsere Reise endlich abschließen zu können. Als wir "die Tür im Nichts" jedoch erreichen, müssen wir unter leisen, angenehmen Tönen feststellen, dass sie verschlossen ist, weswegen Pyrin mit uns "zurück" geht. Sphärische Klänge wabern um uns und im Zeitraffer bewegen wir uns nicht nur zurück auf dem Teppich, sondern auch in der Zeit, erleben die Evolution allen Lebens rückwärts, bis zum Anfang der Existenz, an dem ebenfalls der rote Teppich samt Tür im Nichts wartet. "Jetzt" endet unsere Reise. E-Gitarrensound und der wohl privateste Pyrin des Albums beschreiben die Umstände und Motivationen, welche den Rapper zur Musik führten und wie er sich darum bemüht, eine gescheiterte Beziehung zu verkraften. Hierbei kommt er ganz ohne Metaphern oder lyrische Bilder aus, wodurch wir am Ende des Albums sagen können, dass wir nicht nur den roten Teppich im Nichts, sondern auch uns und Pyrin selbst besser kennenlernen durften.


    Fazit:
    Nach einer erschöpfenden Wanderung, als welche sich "der rote Teppich im Nichts" herausstellte, können wir auf eine Reise komplexer Wortgebilde und verworrener Metaphern zurückblicken, die sich stets um einen gewissen Kontext ranken, und doch von jedem Hörer anders interpretiert werden können. Die instrumentale Begleitung unseres Pfades war meist sehr schlicht und einfach gehalten, um in Kombination mit dem textlichen Inhalt nicht zu überfordern, konnte damit nur leider auch nie wirklich hervorstechen und glänzen. Die ersten Schritte mit Pyrin waren aufgrund seines sehr "sprechlastigen" Flows etwas holprig, doch mit der Zeit harmonisierten unsere Gangarten, sodass wir uns schnell an seine markante Rapart gewöhnten. Wirkliche Stolpersteine waren die musikalischen Experimente, die uns etwa in gutturale Growl-Ebenen führten und einen unangenehm verstörenden Eindruck hinterließen. Dennoch ist das Album alles in allem durchaus eine Legitimation für Pyrins Platz auf dem roten Teppich der Deutschrapszene.



    Wobo Solagl (Daniel Fersch)

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