Review: Gerard – Blausicht



  • 01. Blausicht
    02. Wie neu
    03. Zünd den Regen an
    04. Alles jetzt
    05. Lissabon
    06. Verschwommen
    07. Welt erobern/behalten
    08. Irgendwas mit rot
    09. Raten
    10. Gold
    11. Manchmal
    12. Atme die Stadt
    feat. OK KID
    13. Nichts


    Dieser Gerard: Kaum jemand kannte ihn über die österreichischen Grenzen hinaus, noch nie konnte er sich mit einem Longplayer in den deutschen Albumcharts platzieren – und doch haben alle, die den Wiener bereits auf dem Schirm hatten, Gerard mit seinem vierten Album-Release diesen "Quasi-Durchbruch", das "Quasi-Ankommen" in der Szene vorausgesagt. Dementsprechend wurden "Blausicht" hohe Erwartungen vorangestellt. Das Ergebnis? In jedem Fall gelang die kommerzielle Aufmerksamkeit in Deutschland – Platz 27 der deutschen Charts. Doch ist dieser überhaupt gerechtfertigt oder letztlich nur viel Lärm um "nichts"?
    Mit "Blausicht" startet das Album gleich mit dem Titeltrack, der mehr die Funktion eines Intros erfüllt und doch die Richtung des Albums vorgibt: weise Ratschläge, die wirklich Hand und Fuß haben, anstatt reine Phrasendrescherei zu sein. Eine angenehme Stimme, die den Hörer, ganz klar, ohne Schnörkel empfängt und ihn gleich in seinen Bann zieht. Doch nicht nur Momentaufnahmen und das Miteinander im kleinen Maße scheinen Gerard wichtig zu sein – "wie neu" möchte er alles in seinem Appell und der gleichzeitigen Anklage der Gesellschaft:


    "Ihr habt doch alle enttäuscht/
    Alle Revolutionen versäumt/
    Jetzt liegt hier alles in Trümmern/
    Wir werden uns darum kümmern und machen alles wie neu/
    "
    (Gerard auf "Wie neu")


    Ein wahrer Höhepunkt des Albums, sowohl vom Inhalt als auch vom Klang her. Die Gesellschaftskritik schreitet weiter voran: In Form von "Zünd den Regen an" zaubert uns Gerard, hier fokussiert auf Inhalt und Sprache, fundierte Ratschläge zu den typischen Grundsatzfragen der Menschen im 21. Jahrhundert und setzt in puncto Intellekt und Anspruch noch einmal einen drauf. Einzigartig in fast jedem Track: Nach nahezu jeder zweiten Line drücke ich die Pause-Taste und durchdenke das Gerappte erst einmal, man wird gar überflutet mit Vokabular, das gefühlt schon bald den Status geflügelter Worte genießen könnte. Mit "Alles jetzt" schnürt Gerard das Sozialkritikgepäck erst einmal zu und liefert es mit einer gehörigen Portion Hochwertigkeit ab. Doch nicht nur das Leben in einer Gemeinschaft scheint dem Österreicher wichtig zu sein, sondern auch das konkrete Miteinander, die Liebe, die Freundschaft, alltägliche Probleme, der Mensch. Was haben wir zusammen erlebt? Was ist es wert? Wer sind wir? "Lissabon", "Verschwommen", "Welt erobern/behalten" und "Irgendwas mit rot" ist dieses nächste Paket: Liebe. Von Hochgefühlen, Liebesrausch im Ausdruck von "Wir allein gegen die Welt", aber auch von Ernüchterung und Traurigkeit. Gerard nimmt symbolische Momente und packt sie in wundervolle Worte, auch wenn melodisch teilweise der Höhepunkt verwehrt bleibt, gerade in "Welt erobern/behalten" oder auch "Verschwommen". Aber diese Klarheit, diese Nähe, sie bleibt und wird dem Hörer auch das gesamte Album über erhalten bleiben, was perfekt zum Inhalt passt.


    "Fühlen uns in der Außenseiterrolle bisschen in/
    Zieh'n nochmal an und pusten Rauch ins dunkle Ungewisse/
    Hürden werden nicht genommen, sie werden umgeschmissen/
    Kuchen wird nicht geteilt, es wird wie wild darauf rumgebissen/
    "
    (Gerard auf "Welt erobern/behalten")


    Melancholie ist eines der Hauptmittel des Lyrikers. Dessen sind sich Größen wie Prinz Pi oder Casper längst bewusst und Gerard nutzt dieses Mittel ebenfalls gekonnt; ob nachdenklich und zugleich traurig in "Irgendwas mit rot" oder dem extrem persönlichen Track "Verschwommen". "Shuffle-Modus, irgendwohin wird's schon gehen" denkt sich der Wiener Rapper und führt uns so weg von der Liebe zum Selbstbildnis und damit auch der Selbstkritik: Was mache ich hier eigentlich? In welcher Zeit lebe ich? Was ist mein Wert? Dass "Raten" nicht zu den Meisterstücken des Albums zählt, merkt man in der Hook, die mit der heruntergepitchten Stimme sehr misslungen erscheint und das Klangbild stark beeinträchtigt. "Manchmal" ist "nichts" aber auch "Gold" wert: Genau wie die drei gleichnamigen Songs, thematisch unterschiedlich, alle auf ähnlich hohem Niveau, dennoch jeder ein eigenständiges Werk. Während sich "Gold" noch einmal mit der Welt beschäftigt, behandeln "Nichts" in Form des Outros und "Manchmal" die Liebe und deren Perspektiven, dabei stellt "Manchmal" einen weiteren Höhepunkt des Albums dar, auch musikalisch:


    "Manchmal kommt alles ganz anders als man denkt/
    Manchmal ist dieses Anders auch gut/
    Denn manchmal bist dieses Anders auch du/
    "
    (Gerard auf "Manchmal")


    Wichtig ist noch, die Beats zu behandeln: DJ Stickle, Fid Mella und Gerards Hausproduzent Nvie Motho sind hauptsächlich für diese verantwortlich und haben eingängige Untermalungen abgeliefert. Musikalische Höhepunkte findet man auf "Wie neu", "Lissabon", "Irgendwas mit rot" und "Manchmal". Aber auch die anderen Electro-Analog-Beats sind allesamt ohne Aussetzer schön durchproduziert. So auch im einzigen Feature "Atme die Stadt" mit OK KID – gelungene Darstellung der Stadt, ganz im expressionistischen Sinne, wieder einmal selbst geprägte geflügelte Worte. OK KID wissen sich dabei gut in das Gefüge einzugliedern und halten mit Gerard auf allen Ebenen mit.


    Fazit:
    Eines kann man Gerald Hoffmann auf keinen Fall vorwerfen: mangelnde Nachdenklichkeit. Was auffällt, ist, dass die Dichte derjenigen Zeilen, die mit einem Augenzwinkern – sei es positiv oder auch negativ – und auf mehreren Ebenen empfunden werden können, extrem hoch ist. Das passt zu diesem sympathischen 26-Jährigen, der Selbstkritik nicht nur teilweise andeutet, sondern auch offensichtlich durchscheinen lässt, aber gerade so viel, dass man sich perfekt mit ihm identifizieren kann. Auch Grenzen sprengt Gerard – Lieder lassen sich zum Teil nicht eindeutig einordnen, was zuerst schwierig ist und beim ersten Hören wie Unordnung wirkt, sich letztlich aber doch zu einem großen Ganzen, eben dieser "Blausicht" zusammenfügt. Gerard: Eine poetische Identifikationsfigur, die dem großen Durchbruch mit diesem Album ein ganzes Stück näher gekommen sein wird – verdient.



    (Max)




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    Bewerte diese CD:
    [reframe]reviewthread.php?reviewid=1280 [/reframe]
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    [indent]It ain't about who did it first, it's about who did it right.[/indent]

    Einmal editiert, zuletzt von Max ()

  • Hate ungern, aber:
    Nach jeder zweiten Zeile Pause zu drücken und über den Inhalt nachzudenken, um dann "Welt erobern/behalten" als Liebeslied zu bezeichnen: :thumbup:


    Meiner Meinung nach ist das Album textlich extrem enttäuschend. Im Endeffekt ist der Inhalt gefühlt der Hälfte der Songs nur "Jetzt ist meine Chance", "Alles wird gut" und "Ich gebe mich nur mit dem Besten zufrieden", was mir persönlich stark auf die Nerven geht.
    "Lissabon" und "Verschwommen" finde ich aber unmenschlich gut und auch sonst feier' ich einiges. Die Hook von "Raten" mit Megaloh-Sample würde ich auch niemals als misslungen bezeichnen, ich mag die.

  • Zitat

    Original von TonySunshine
    Nach jeder zweiten Zeile Pause zu drücken und über den Inhalt nachzudenken, um dann "Welt erobern/behalten" als Liebeslied zu bezeichnen: :thumbup:


    Danke für das Feedback :) darüber hab ich auch sehr lange nachgedacht, die Gesellschaftskritik, die sofort durchscheint, lässt sich aber auch nach mehrmaligem Hören sehr gut als Liebeslied, meiner Meinung nach, interpretieren und das passt dort auch im Kontext, Rest ist deine Meinung :)

    [indent]It ain't about who did it first, it's about who did it right.[/indent]

  • Wahnsinnig gutes Album, Anzahl der Mics vollkommen gerechtfertigt.

  • Zitat

    Original von MrAtticus
    Für mich eins der besten Alben des Jahres bisher! Kann auch gar nicht sagen, warum. Find einfach allgemein die Stimmung im Gesamten grandios!


    kann ich genau so unterstreichen

  • Zitat

    Original von Deskar
    neuer casper 2.0? er kann ja übel gut schwule rapper kopieren.. good job :thumbup:


    ne mischung aus neuem casper und deutschem schlager yeah :cool:


    Ohne Scheiß, was zur Hölle siehst du da an Parallelen zu Casper?

  • Zitat

    Original von Deskar
    neuer casper 2.0? er kann ja übel gut schwule rapper kopieren.. good job :thumbup:


    ne mischung aus neuem casper und deutschem schlager yeah :cool:


    Alter...


    BTT: Für mich ein wahnsinnig gutes Album! Für mich passt da einfach das Gesamtpaket. Die Stimmung des Album, die Texte, die Instrumentals einfach alles super. Höre ich eigentlich jeden Tag!

  • Album hat eine sehr angenehme Grundstimmung, ein wahnsinnig harmonisches Klangbild und einige textliche Glanzpunkte über die man Nachdenken sollte.


    Allerdings muss ich Toni zustimmen, dass es hier inhaltlich und Vortragstechnisch komplett in eine Richtung geht. Wobei mir das lieber ist als ein Album auf dem "Für jeden was dabei ist". Für mich auf jedenfall ein sehr sehr gelungenes Album aber nicht der ganz große Wurf den ich erwartet hatte

  • Zitat

    Original von Hater
    Album hat eine sehr angenehme Grundstimmung, ein wahnsinnig harmonisches Klangbild und einige textliche Glanzpunkte über die man Nachdenken sollte.


    Allerdings muss ich Toni zustimmen, dass es hier inhaltlich und Vortragstechnisch komplett in eine Richtung geht. Wobei mir das lieber ist als ein Album auf dem "Für jeden was dabei ist". Für mich auf jedenfall ein sehr sehr gelungenes Album aber nicht der ganz große Wurf den ich erwartet hatte

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