Meilensteine: Die Fantastischen Vier – 4 gewinnt (1992)

  • Rap ist seit über 40 Jahren Teil der Musikgeschichte. Und obgleich diese Zahl im Vergleich zu anderen Musikstilen gering scheint, war die Entwicklung in hohem Maße dynamisch und einflussreich. Wie kaum eine andere Musikrichtung hat das Rap-Genre politische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen reflektiert und künstlerisch verarbeitet. Ein Verständnis der Vergangenheit ermöglicht daher in besonderem Maße eine differenzierte und facettenreiche Wahrnehmung der heutigen Szene. Im Rahmen dieser Kolumne versuchen wir eine kritische Würdigung herausragender Alben der Rapgeschichte. Basierend auf einer subjektiven Auswahl, unter Berücksichtigung der Fachliteratur, präsentieren wir euch die unserer Meinung nach prägenden Alben deutschsprachiger Rapmusik. Die Auswahl umfasst Werke, deren Relevanz auf künstlerischer Qualität und/oder Innovation beruht, welche aber auch kommerziell wahrgenommen wurden. Gleichzeitig wurde auf eine Balance der verschiedenen Stilrichtungen geachtet, um einen möglichst ausgewogenen Blick auf die Entwicklung zu ermöglichen. Von jedem Künstler, den wir berücksichtigt haben, wurde jenes Werk ausgewählt, welches unserer Einschätzung nach zu einem Meilenstein geworden ist. Eines wird bei diesem knapp zwanzigjährigen Streifzug durch die Geschichte deutlich: Rap in Deutschland hat eine lehrreiche, kontroverse und sehr spannende Vergangenheit.




    Die Fantastischen Vier – 4 gewinnt (1992)



    01. Vier gewinnt
    02. Die da!?!
    03. Hört Euch den hier an
    04. Saft
    05. Dicker Pulli
    06. Na gut
    07. Einen noch
    08. Es wird Regen geben
    09. Nenn ihn Präsident
    10. Plattenspieler
    11. Hip Hop Musik
    12. Lass die Sonne rein
    13. Thomas und die Frau'n
    14. Nonixnarretz
    15. Jaaa
    16. Reich
    17. Individuell aber schnell
    18. Arschloch


    Als deutsche Rapmusik den kommerziellen Durchbruch feierte, geschah dies in einem jungen, wiedervereinigten Deutschland, dessen Identität weder gesellschaftlich noch kulturell gefestigt war. Massenkompatible Stars aus dem Westen wie BAP, Westernhagen oder Lindenberg avancierten schnell zu gesamtdeutschen Pophelden, aber die junge Bundesrepublik stand ohne Zweifel vor einem Neubeginn. Die von der Zeitschrift "Tempo" anno 1988 als "Sinnjahrzehnt" titulierten 90er-Jahre machten ihrem Ruf alle Ehre. Die Arbeitslosigkeit stieg erstmals über 3 Millionen und ein neuer Nationalismus keimte vor allem in Ostdeutschland auf. Die rechtsextrem motivierten Anschläge auf ein Asylheim in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 reaktivierten die Friedensbewegung der 80er-Jahre. Wenig später würde eine Heidelberger Formation namens Advanced Chemistry mit ihrer Single "Fremd im eigenen Land" die politische Kultur der Nation thematisieren und nachhaltig deutsche Rapmusik beeinflussen. Doch erstmals erschien in eben jenem August 1992, zwei Tage nach Ende der rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen, ein Album, welches nicht weniger als die Etablierung deutschen Sprechgesangs im kommerziellen Mainstream darstellte: "4 gewinnt" von den Fantastischen Vier.


    Mit dem Song "Die da!?!" stürmten die vier Stuttgarter Smudo, Thomas D, And.Ypsilon und DJ Hausmarke kurze Zeit nach Albumveröffentlichung die Charts in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mitte der 1980er-Jahre hatte sich die Gruppe als Terminal Team gegründet und dem Zeitgeist entsprechend angefangen, in englischer Sprache zu rappen. Als jedoch 1991 der erste deutsche Rap-Sampler "Krauts with Attitude" auf den Markt kommt, sind die Fantastischen Vier bereits der einzige Act mit deutschen Texten. Ein Jahr später erscheint "Die da!?!", ein humorvoller Song über die tragikomische Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen einer Frau und zwei betrogenen Liebhabern. Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Single steigt bis auf Platz zwei der Charts und schafft in Österreich und der Schweiz sogar die Pole Position. Der erste deutsche Rapsong in den deutschen Charts, er klang beinahe wie ein Schlager:


    "Ist es die da, die da am Eingang steht?/
    Oder die da, die dir den Kopf verdreht?/
    Ist es die da, die mit 'm dicken Pulli an?/
    Nein, es ist die Frau, die freitags nicht kann!/
    "
    (Smudo und Thomas D auf "Die da!?!")


    Die Fantastischen Vier finden schnell Anklang in der deutschen Medienlandschaft. Der "Spiegel" feiert die Gruppe als "Helden der Lyrik". Ähnlich wie 1979 der Sugarhill Gang mit "Rapper's Delight" gelang einer Gruppierung der kommerzielle Durchbruch, welche nicht dem Untergrund entstammte. "[Wir] waren nie Bestandteil der Szene, haben von Anfang an unser eigenes Ding gemacht", fasste Smudo 1994 rückblickend zusammen. Bereits der Song "Hip Hop Musik" reklamierte diese Sonderstellung auf dem Album. Tatsächlich war "4 gewinnt" eine klare künstlerische Abgrenzung zu Untergrund-Acts wie Advanced Chemistry, LSD oder No Remorze. Die junge Rapszene in Deutschland findet sich umgehend in einer Identitätsdebatte über Realness, Kommerzialität und den eigenen Status als Kunstform wieder. Schnell setzten sich Begriffe wie "Alte Schule" und "Neue Schule" durch.


    Im Angesicht dieser Umwälzungen wundert es kaum, dass "4 gewinnt" immer im Schatten des Erfolgs seiner Single "Die da!?!" stand. Dabei ist das Album ein grundsolides Werk, auf allen Ebenen gereifter als das Debüt "Jetzt geht's ab". Die Wortverliebtheit, Raptechnik und Unverbrauchtheit des Albums waren damals wie heute originell. Musikalisch und inhaltlich gab es zwar keine künstlerisch wegweisenden Akzente, aber Songs über Sex ("Saft"), Frauen ("Thomas und die Frau'n") und gute Laune ("Lass die Sonne rein") erfüllten ihren Unterhaltungszweck. Ein kalkuliertes Kommerzprodukt ist "4 gewinnt" nicht. Bis auf "Die da!?!", das seinen Charme wesentlich dem Sample von Asha Puthlis "Right Down Here" verdankt, finden sich nur wenige charttaugliche Refrains, Textideen oder musikalische Arrangements. Die Melodien waren simpel arrangiert und hatten nur selten Ohrwurmfaktor. Das verunglückte "Arschloch" als Versuch eines "harten" Songs unterstrich zum Ende noch die mangelnde Variabilität in Stil und Attitüde. Im Gesamtbild ist "4 gewinnt" die Momentaufnahme einer jungen Rap-Combo auf der Suche nach der eigenen künstlerischen Identität jenseits des herrschenden musikalischen Zeitgeistes. Auf diesem Weg war das Album ein großer Schritt nach vorne.


    Die folgenden Alben "Die 4. Dimension" (1993) und "Lauschgift" (1995) sollten die Fantastischen Vier später zu Popstars und Deutschrap-Millionären machen. Vieles, was dann zur Entfaltung kam, war in "4 gewinnt" bereits angelegt, aber nicht ausgereift. Ohnehin hat die Musikgeschichte oft bewiesen, dass neue Stilrichtungen musikalische Vorreiter benötigen und erst später Künstler hervorbringen, die das musikalische Potenzial zu voller Entfaltung bringen. Mozart war nicht der erste Komponist klassischer Musik und Metallica waren nicht die Begründer des Metal. Ebenso beginnt die Geschichte deutschen Raps als populärer Musikgattung nicht mit dem künstlerischen Höhepunkt des Genres. Es brauchte Zeit und provokante Experimente abseits konventioneller Vorbilder. Diese Funktion erfüllte "4 gewinnt" und darin liegt zu einem großen Teil der musikhistorische Verdienst des Albums.


    Durch ihren Erfolg ebneten die Die Fantastischen Vier deutscher Rapmusik den Weg zu den Major-Plattenlabels, in die Medien und auf die große Bühne deutscher Popmusik. Die Berührungsängste mit der bislang stark amerikanisch geprägten Sprechgesangskultur verschwanden und es wurde deutlich, dass Rap auf Deutsch Potenzial hatte, auch abseits der eingeschworenen Untergrund-Szene. Wie es Smudo damals zusammenfasste: "Ich denke nicht, ich muß 'n bißchen sprühen können und 'n bißchen breaken und mich dann um 20 Uhr nach Heidelberg verneigen und dann noch'n bisschen HipHop machen". Deutschrap hatte spätestens mit "4 gewinnt" seinen ersten Richtungsstreit um die Definitionsmacht des eigenen Genres. Wie kommerziell und mehrheitsfähig durfte deutscher Rap sein? Gab es tatsächlich eine simple Dichotomie von "Alter Schule" und "Neuer Schule"? Oder ganz generell: Was war authentischer deutscher Rap – und was nicht? Die künstlerischen Antworten auf diese Fragen ließen nicht lange auf sich warten. Die Kontroversen ohnehin nicht.



    (Philipp)

  • Zitat

    Original von JoeKing
    warum nur deutschrap? da kennt man doch eh schon alles, wenn man amirap auch noch einbeziehen würde wärs deutlich interessanter


    Hm finds bei deutschrap spannender weil man ja schon ein bisschen hintergrundwissen hat.



    Wenn ihr nicht DD - Deluxe Soundsystem oder SD - Samy Deluxe macht hasse ich euch!


    PS geile Idee die Rubrik :thumbup:

  • Zitat

    Original von lupa
    Sorry, aber wer bittesehr liest laut.de?


    Ich zum Beispiel. Und zwar äußerst regelmäßig. Seit Jahren.
    Bin mal auf die nächsten Teile der Kolumne gespannt, hab' diesen Teil nur überflogen, da mich Fanta 4 kein Stück jucken. Aber generell gute Sache, hoffe, dass da regelmäßig was kommt.
    Schreibt die alle Philipp?



    Zitat

    Original von JoeKing
    warum nur deutschrap? da kennt man doch eh schon alles, wenn man amirap auch noch einbeziehen würde wärs deutlich interessanter


    Weil rappers.in ein Deutschrap-Magazin ist und das ist auch gut so.

  • Hat nicht vor kurzem erst jemand den vorschlag hier gepostet, so etwas wie eine "geschichtstunde" in sachen rap einzuführen?
    Sieht nämlich ziemlich so aus als hätte man diese idee einfach übernommen und umgesetzt, was natürlich sehr gut ist :thumbup:

  • Zitat

    Original von AWESOMENESS
    Hat nicht vor kurzem erst jemand den vorschlag hier gepostet, so etwas wie eine "geschichtstunde" in sachen rap einzuführen?
    Sieht nämlich ziemlich so aus als hätte man diese idee einfach übernommen und umgesetzt, was natürlich sehr gut ist :thumbup:


    jetzt wo du s sagst... das hab ich auch gelesen und wenn das dann auch ausschlaggebend dafür war dann props an r.in für das gute einbringen von ideen von usern!

  • Ich find's 'ne gute Idee, bin gespannt, was sonst noch so in der Rubrik besprochen wird. Das ausgerechnet "4 gewinnt" besprochen wird, hat mich zuerst gewundert aber wie's ja im Text so schön gesagt wird: es war eben die erste kommerziell erfolgreiche Rap-Scheibe in Deutschland. Ich hoffe trotzdem, dass die noch viel bessere "Lauschgift" auch besprochen wird.

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!