01. Raus
02. SHSFLS
03. Moment
04. Babylon
05. Nur du zählst
06. MP3 Player
07. Menetekel
08. Vadata
09. Stadt aus Heißluftballons
Betrachtet man den musikalischen Werdegang Johannes Bruhns, kann man ihm eine enorme musikalische Reifung wohl kaum absprechen: Es begann mit seinem Debütalbum "Nacht", das 2005 bei Royalbunker erschien, mit dem er wohl vor allem als Rapper wahrgenommen wurde und das thematisch doch eher plakativ ausfiel. Doch bereits hier definierte er seinen Stil ein Stück weit als Solokünstler. Er gab seinen Produktionen durch wiederholten Gebrauch bestimmter Stilmittel wie etwa orientalischen Tonleitern, Balkaninstrumenten, tiefen Bässen und düsteren Synthies einen einzigartigen Anstrich mit hohem Wiedererkennungswert. Auf seinen kommenden Produktionen verfeinerte er diesen Stil und die Qualität seiner Produktionen kontinuierlich und zeigte sich auch textlich wesentlich nachdenklicher, wie es auch auf dem wunderbaren "Grau" seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Seinem neusten Wurf, den er in der einsilbigen Tradition seiner bisherigen Veröffentlichungen schlicht als "Raus" betitelte, kann man eine gewisse Doppeldeutigkeit folglich kaum absprechen. Raus! Raus aus allen Genregrenzen. Die vergleichsweise hohe Dichte an reinen oder nur mit Voicesamples bespielten Instrumentals verstärkt diesen Eindruck sogar noch. Hört man sich die EP einmal an, stellt man schnell fest, dass Text und Instrumental untrennbar miteinander in Verbindung stehen (eine Eigenart, die übrigens gerade in Rapmusik viel zu selten anzutreffen ist). Denn es unterwirft sich alles, jeder Ton, dem Gesamtprodukt: der Musik! Dass Tua hierbei auf Rap im traditionellen Sinne gänzlich verzichtet und auch das musikalische Endprodukt mit Rapmusik so gut wie gar nichts zu tun hat, ist fast schon selbstredend. Vielmehr bietet sich dem Hörer ein Potpourri verschiedenster musikalischer Einflüsse wie Dubstep, IDM und HipHop, die stilsicher miteinander verschmischt werden, ohne dass dabei der oben erwähnte Wiedererkennungswert eingebüßt wird.
"Scheiß drauf, ob ich morgen aufwach'/
Für mich zählt nur jetzt und hier/
Schön, dass ihr gut auf euch aufpasst/
Doch bleibt weg von mir/
("Raus")
Dieser Anspruch an die eigene Musik mag dem unaufmerksamen Zuhörer womöglich verborgen bleiben, wer sich jedoch darauf einlässt, genau hinhört, der erkennt schnell, wie viel Detailverliebtheit in den Produktionen steckt. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, mit welcher Sorgfalt er sich verschiedenen Genres bedient. So gelingt es Tua, im Gegensatz zu vielen Kollegen, den für Dubstep leider fast schon dogmatischen Wobble-Bass nicht zum Selbstzweck verkommen zu lassen. Während eine Vielzahl anderer Produzenten, die sich dieser Spielart bedienen, damit derart inflationär und unsensibel umgehen, dass in Autotune-Tradition stehender, allgemeiner Überdruss wohl nur noch eine Frage der Zeit ist, schafft Tua es, gezielt zu betonen und zu pointieren. Da wäre "Babylon", bei dem wohl mit Hintergedanken an das Babylon des Alten Testaments verschiedene Voicesamples so eingespielt und verändert wurden, dass deren Inhalt für den Hörer unverständlich bleibt. Das nur um dann in der treibenden, fast schon wütenden, vom Wobble getragenen Hook, Bässe und Stimmen verschmelzen zu lassen, bis sie nicht mehr klar voneinander zu trennen sind. Das vorhergehende Stück "Moment" wird von einem sanften Piano getragen, das spielerisch unter den Worten Tuas dahingleitet und in einem spannungsgeladenen Finale mündet. Textlich gestaltet sich das Ganze sehr lyrisch, hinterlässt jedoch einen ambivalenten Eindruck, denn Zeilen wie "Es ist nur ein Moment und nicht mehr, den wir nicht fassen und greifen können, unsere Hände sind leer" klingen fast schon nach einer Poesiealbum-Metaphorik. Was bei "Dein Lächeln" als Marianne Rosenberg-Groteske und bei "MDMA" in seiner Zweideutigkeit wunderbar funktioniert hat, wirkt in einem derart nachdenklichen Track schlichtweg zu kitschig. Weniger kryptisch sind die folgenden Anspielstationen; das pragmatische "Nur du zählst", dessen bitterer Nachgeschmack sich erst entfaltet, wenn man sich die drei Worte einmal auf der Zunge zergehen lässt und das unglaublich kraftvolle "MP3 Player", bei dem der Wobble-Bass die fast geschriene Hook nahezu perfekt prononciert.
"Warum kann man diese MP3-Player nicht lauter machen? Ich will die Welt nicht hör'n"
("MP3 Player")
Mit "Menetekel" bekommt man nun das fast schon einer Tradition folgende pure Pianostück zu hören, was inklusive Vinylrauschen neben all der Elektronik fast wie aus einer anderen Zeit wirkt. Jenes Elektroide, in Kombination mit gezielt eingesetzten, an Burials "Untrue" erinnernden, halllastigen Knarzgeräuschen und blechernen Paukenschlägen, verleiht der EP etwas Dystopisches. Diese Homogenität und Konsequenz schaffen eine äußerst intensive Atmosphäre, bis man sich auf "Stadt aus Heißluftballons" endgültig in einer Jules Verne'schen Zukunftsfiktion wähnt.
So bleibt festzuhalten, dass Tua mit "Raus" ein weiteres Mal bewiesen hat, wieviel kreatives Potenzial in ihm steckt. Zwar bleibt auch "Raus" durchweg düster und nachdenklich, die spielerische Leichtigkeit jedoch, mit der er sich verschiedensten Genres zu bedienen weiß und diese sinnvoll in sein Klangbild hineinwebt, ist schlichtweg bewundernswert. Man muss sich nur einmal die Symbiose von Snare und Sub-Bass auf "SHSFLS" oder den aus dem Hintergrund aufbrandenen Choral auf "MP3 Player" anhören und man kommt nicht umhin, festzustellen, mit welchem Perfektionismus hier ans Werk gegangen wurde. So hat es zumindest den Anschein, als sei jeder Ton genau da, wo er hin sollte. Da auf "Raus" musikalisch einfach unfassbar viel passiert, sollte man sich bestenfalls selbst ein Bild davon machen. Die Rap-Puristen unter euch, die sich jetzt fragen, warum zum Teufel das Teil rezensiert wurde, obwohl es doch fast gar nichts mit Rap zu tun hat, können diesen Text ja als nett gemeinten Tipp unter Musikliebhabern verstehen.
disdi (Christian Weins)
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