01. Sohn seiner Klasse feat. Ozan
02. Zur Sonne feat. Bahar
03. Kreuzberg feat. Zaza
04. Gedanken eines Kriegers feat. Celo
05. Hass feat. Motrip
06. Ich will raus feat. Motrip & Igor
07. Fortschrittlich
08. Wahre Lieder feat. Dimi
09. Teil von euch
10. Sonnenfinsternis feat. Sensey
11. Produkt des Systems feat. Amar & Igor
12. Freunde feat. Kork & Kaziban
13. Das hier können sie uns nicht nehmen feat. Motrip, Igor & Kool Savas
Ich habe einen Bruder. Er ist keine zwei Jahre jünger als ich, aber häufig – wenn ich mir seine Kleidung ansehe, seine Musik anhöre, oder mich mit seinen Freunden unterhalte – habe ich das Gefühl, wir gehören nicht mal zur selben Generation. Nie habe ich so ganz aufgehört, insgeheim über eine Adoption oder vielleicht einen folgenschweren Seitensprung meiner Mutter zu spekulieren. Nie habe ich aufgehört, zu denken: "Da KANN doch etwas nicht stimmen!" Nie...
Bis vergangenen Freitag, den ersten Mai 2009, 18:41 mitteleuropäischer Zeit. Jenem schicksalhaften Moment, als ich zum ersten Mal "Sohn seiner Klasse" von Pawel Yurderi, besser bekannt als Sinan, besser bekannt als "Das ist doch der kleine Bruder von Kool Savas, oder?", lauschen durfte. Dieses erste eigene Release des jungen Deutschtürken hat mir die Augen geöffnet und als ich später an besagtem Abend meinen sichtlich verwunderten nächsten lebenden Verwandten in meine Arme schloss, flüsterte ich ihm liebevoll ins Ohr: "Willkommen in der Familie!"
Zur Sache: "Sohn seiner Klasse" ist ein Mixtape und mit etwas über einer halben Stunde Spielzeit recht kompakt geraten. Dennoch Platz gefunden haben dreizehn Stücke, gespickt mit Gastbeiträgen von großen Brüdern, kleinen Cousins (Dimi), Schwagern (Igor), Ex-Labelkollegen (Amar), diversen Freunden und auch ein paar – sofern mir da nichts entgangen ist – normalen Featurepartnern wie etwa dem Silberkehlchen Bahar. Stattfinden tut das Ganze auf größtenteils schnörkellos, aber sauber produzierten Sprechgesangstaktvorgaben von Amar, Melbeatz, Disco Polo und dem/der/den mir nicht näher bekannten Arbeiterbeats. Rein vom Namen würde ich aber einfach mal auf Beatbastler-Nachwuchs aus Sinans Freundeskreis tippen, denn der ist jetzt unter die Arbeiter gegangen. Anstellungen unter anderem im Call-Center und bei McDonald's sowie ein Jahr Zivildienst im Altenheim später, ist aus dem Junior-Spitter von der ersten John Bello Story ein echter Mann geworden. Mehr noch: Ein Revoluzzer. Ein Kämpfer für die Sache. Ein zweiter Ernesto, nur mit Mic statt Gewehr und vielleicht nicht ganz den gleichen Chancen, einmal weltweit T-Shirts und Posterwände verkiffter Langzeitstudenten zu zieren.
"Kleiner, du brauchst nicht glauben, du bist hier allein/
Ich bin ein Arbeiterkind, ganz genau wie du/
Du bist ein Sohn deiner Klasse – darauf kommt es an/
Du bist ein Teil von der Masse, die was ändern kann/"
(Ozan auf "Sohn seiner Klasse")
Motivationsguru Ozan und ein schwermütiges Gemisch aus Chören und Pianogeklimper im Rücken, gibt uns Sinan auf dem eröffnenden Titeltrack erstmal einen schnellen Crash-Kurs in Sachen böser Kapitalismus: Politik, Religion, Medien, Bildungswesen und wahrscheinlich sogar deine heiß geliebte Daily Soap – absolut alles dient "ihnen" nur dazu, "uns" klein- und vom großen Befreiungsschlag abzuhalten. Und auch, wenn der ein oder andere sich etwas dämlich vorkommen mag, wenn ihm ein Zwanzigjähriger unter wiederholtem Einsatz der Anrede "Kleiner" mit väterlichem Gestus die Welt erklären will – eines wird sofort deutlich: Da ist jemand unzufrieden. Aber nun, wer ist das nicht? Schon etwas mehr sprichwörtliche Farbe bekennt Pawel, der seinen Namen in Anlehnung an den Helden des sozialistischen Romans "Wie der Stahl gehärtet wurde" erhielt, dann auf dem anschließenden "Zur Sonne": Er "will einen roten Planeten", "denn wir wachsen auf zwischen Klassenunterschieden". Soso, daher weht der Wind also. Aus dem Osten.
Jedenfalls dämmert einem so langsam, dass man auf die erhoffte Feuerspuckerei und die sportlichen Beleidigungen hier wohl lange wird warten können. Von wegen Adel verpflichtet! Der Prince of Rap scheint seinen Thronfolgeanspruch ausschlagen zu wollen und dem Zepter wohl Hammer und Sichel vorzuziehen. Weniger Königsblau, dafür jede Menge knalliges Rot. Der Fokus auf politischen Inhalten statt auf technischem Geplänkel. Da ist plötzlich nicht mehr von "Homes" die Rede, sondern von "Genossen", man ist nicht mehr "fly" und "sick", dafür "fortschrittlich" und Sinan hat das Wort "Arbeiter" in all seinen Formen wohl jetzt schon öfter in den Mund genommen als Bruder Savas dazu aufgefordert hat, selbiges mit seinem Schwanz zu tun.
Egal, ob mit Zaza das titelgebende Kreuzberg representet wird, oder man mit Motrip dem vermeintlich harmlosen Battlerap frönt ("Hass", "Ich will raus") – immer und überall scheint die neue Überzeugung ein bisschen durch, bis dann schließlich die düstere Marschmusik "Fortschrittlich" auch dem chronischsten Nicht-auf-den-Text-Hörer unmissverständlich klar machen will, worum es hier geht:
"Ich bin kein Rapper – ich bin Freiheitskämpfer, der die Mittel nutzt/
die ihm zur Verfügung stehen – ich will mich prüfen und geh'/
auf die Straße und demonstrier', bis der Knüppel kommt/
Ich seh' alles klar vor Augen – ich bin nicht verrückt geworden/
Ich schau' nicht hoch zu Biggy und Pac – ich will sein wie Pawel Kortschagin/
will sagen: 'An der roten Flagge klebt auch etwas Blut von mir'/"
("Fortschrittlich")
Da meint es wohl jemand wirklich ernst. Schade nur, dass sich Sinans Bemühungen größtenteils in derartiger Phrasendrescherei erschöpfen und er eventuellen Interessenten an seiner Weltanschauung im Grunde nichts Konkretes an die Hand gibt. Vielleicht ähnlich wie die seiner Musik zugrunde liegende Ideologie, bleibt er dem geneigten Hörer am Ende echte Antworten auf die angesprochenen Probleme schuldig und bei ein paar der auf "Sohn seiner Klasse" gemachten Aussagen wäre ein "Äääh?!" wohl ähnlich angebracht wie im letzten Wort rechts oben auf dem Cover. Spätestens, wenn auf "Produkt des Systems" mal eben die Alleinschuld an allem, was einem in unserer Welt so an Übel widerfahren kann, auf die bösen Männer da oben abgewälzt wird, beginnt man dann doch, sich zu fragen, ob es sich da nicht einer ein wenig leicht macht.
"Klimakatastrophe, Kriege – Produkt des Systems/
Suizid, Pädophile – Produkt des Systems/
Unser Hass auf die Welt – Produkt des Systems/
Unser Hass auf uns selbst – Produkt des Systems/"
(Sinan, Igor und Amar auf "Produkt des Systems")
Und viel mehr ist es dann auch nicht. Darüber hinaus werden höchstens noch ein paar Battle-MCs angeprangert, die doch tatsächlich unterhaltsames Auf-dicke-Hose-machen der Verbreitung hanebüchener Verschwörungstheorien und plakativer Stimmungsmache vorzuziehen scheinen. Was Bruderherz wohl dazu sagt? Zumindest für den Moment nicht viel, denn KKS' einziger Beitrag zum Tape bleibt das abschließende, bereits von der John Bello 2 Premium Edition bekannte "Das hier können sie uns nicht nehmen". Schade eigentlich.
Fazit:
Natürlich ist das gesamte Tape im Grunde gut hörbar und so tadellos produziert, dass einen etwa das hymnische, beat-wise noch an einstige Vorbilder aus Übersee erinnernde "Teil von euch" fast schon gezwungenermaßen mitgehen lässt. Raptechnisch hat der gute Sinan jedoch seit seinen ersten öffentlichen Gehversuchen eher einen Schritt zurück gemacht. Bestenfalls Standardware. Und inhaltlich bleibt vieles so schwammig und undurchdacht, dass man sich stellenweise nicht recht des Eindrucks erwehren kann, da habe lediglich einer aus einer Laune heraus die Harlemer Vogelgezwitscherimitatoren mit der Neigung, sich in der Shirt-Größe zu vergreifen, als Leitmotiv durch die Herren Marx und Engels ersetzt und ab dafür. Sicher ist es nicht leicht, sich als Individuum hervorzuheben, wenn man ein Stück weit wohl immer nur "der andere S. Yurderi" bleiben wird und der große Bruder an einem haftet wie sonst nur an Jürgen, Zlatko und Alida. Aber muss man sich von der künstlerischen Identitätskrise denn gleich zum Propagandainstrument einer Sache, die man selbst nicht so ganz durchschaut zu haben scheint, machen lassen? Mich jedenfalls überzeugt "Sohn seiner Klasse" musikalisch vielleicht partiell, seine Message jedoch nicht im Ansatz. Wer allerdings selbst manchmal Probleme hat, sein eigen Fleisch und Blut als solches zu akzeptieren, dem sei dieses Machwerk wirklich wärmstens empfohlen.
holi (Nico Mönnig)
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